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Russische Invasion
Krieg in der Ukraine: So ist die Lage

Russische Soldaten
Russische Soldaten bewachen einen Bereich an einem eroberten ukrainischen Kontrollpunkt bei Luhansk (Foto während einer von Russland organisierten Reise aufgenommen). Foto: Uncredited
Mariupol
Das während der Kämpfe beschädigte Stahlwerk Azovstal ist vom Mariupoler Seehafen aus zu sehen. Foto: Uncredited
Sprengung in Mariupol
Russische Militärs entminen einen Strand im besetzten Mariupol. Das russische Verteidigungsministerium hat Journalisten durch die in großen Teilen zerstörte Stadt geführt. Foto: Uncredited
Sjewjerodonezk
An der Frontlinie in Sjewjerodonezk gehen die Kämpfe erbittert weiter. Foto: Oleksandr Ratushniak
Nichts deutet derzeit auf ein baldiges Ende des russischen Krieges in der Ukraine hin. Militärexperten untermauern diesen Eindruck. Präsident Selenskyj treibt derweil die Annäherung an die EU voran.

Washington/Kiew. Die russische Armee stellt sich nach Einschätzung westlicher Experten auf einen Krieg in der Ukraine bis zum Herbst ein. Die Streitkräfte haben nach Informationen des ukrainischen Militärgeheimdienstes ihre Planung bis Oktober ausgeweitet, wie US-amerikanische Militärexperten berichteten.

Etwaige Änderungen der Pläne hängen den Informationen nach vom Erfolg im Donbass ab. Das Zentrum schwerster Kämpfe im Osten der Ukraine blieb auch am Sonntag die Großstadt Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk. Die Lage dort ist nach Angaben des Gouverneurs die schlimmste im ganzen Land. Der Generalstab in Kiew meldete eine Vielzahl von Kämpfen auch in der Region Slowjansk im Gebiet Donezk. Immer wieder gibt es demnach auch Luftangriffe gegen zivile Infrastruktur.

Wie viele andere Staats- und Regierungschefs könnte demnächst Bundeskanzler Olaf Scholz seine Solidarität mit der angegriffenen Ukraine bei einem Besuch demonstrieren. Nach einem unbestätigten Bericht der «Bild am Sonntag» ist noch vor dem G7-Gipfel Ende Juni eine Reise von Scholz mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi nach Kiew geplant. Sie dürfte auch im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsgesuch der Ukraine stehen, zu dem in den kommenden Wochen wichtige Entscheidungen anstehen.

Hacker bringen Kritik an Krieg auf russische TV-Webseiten

Unbekannte Hacker haben eine Botschaft gegen den Krieg auf Webseiten des staatlichen russischen Fernsehens platziert. Auf dem Streaming-Portal «Smotrim.ru» etwa stand am Sonntagabend neben Fotos von Zerstörung in der Ukraine «Putin vernichtet Russen und Ukrainer! Stoppt den Krieg!», wie zahlreiche Internet-Nutzer im Netz berichteten.

Das russische Staatsfernsehen räumte später eine Hacker-Attacke auf «Smotrim» und die Website der Nachrichtensendung «Vesti» ein. Dadurch seien weniger als eine Stunde lang «unerlaubt Inhalte mit extremistischen Aufrufen» angezeigt worden.

In Russland wird der Angriffskrieg in der Ukraine offiziell als militärische Spezialoperation bezeichnet. Von der offiziellen Linie abweichende Darstellungen stehen als Verbreitung angeblicher Falschinformationen über russische Streitkräfte unter Strafe.

In der Nacht zum Montag zeigte die «Smotrim»-Website wieder Links zu Propaganda-Material etwa über die «Befreiung» der umkämpften ostukrainischen Industrieregion Donbass und die Verleihung der Auszeichnung «Held der Arbeit» durch Kremlchef Wladimir Putin.

Russland weitet Planungen um 120 Tage aus

Das berichteten die Militärexperten des US-amerikanischen Institute for the Study of the War (ISW) unter Berufung auf Informationen des ukrainischen Geheimdienst-Vizedirektors. Russland stellt sich demnach auf einen Krieg bis Oktober ein. Die Informationen deuteten nach Einschätzung des ISW darauf hin, dass der Kreml nicht daran glaubt, seine Ziele in der Ukraine schnell erreichen zu können.

«Unmöglich, den Beschuss zu zählen»

Mit diesen Worten beschrieb der Gouverneur des Gebiet Luhansk, Serhij Hajdaj, die Lage um die Großstadt Sjewjerodonezk. Viele Ortschaften in der Region stünden unter Feuer. In Sjewjerodonezk sei die Chemiefabrik Azot beschossen worden. Zuvor hatten die prorussischen Separatisten mitgeteilt, in die Bunker unter der Industrieanlage geflüchtete Zivilisten hätten das Werksgelände verlassen.

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs in Kiew sind bei den anhaltend schweren Kämpfen im Donbass die russischen Truppen im Bereich des wichtigen Verkehrsknotenpunkts Bachmut zurückgedrängt worden. Es seien bis zu 150 Angreifer «vernichtet» worden. Von unabhängiger Seite überprüfen ließen sich diese Angaben nicht.

Russland beschießt Waffenlager im Westen

Zerstört worden sein soll bei dem Angriff ein großes Lager mit Panzerabwehrraketensystemen, tragbaren Flugabwehrraketensystemen und Artilleriegeschossen - nach Angaben des Sprechers des russischen Verteidigungsministeriums Waffen, die die USA und europäische Länder der Ukraine geliefert haben. Vier Kalibr-Langstreckenraketen seien von einer Fregatte im Schwarzen Meer aus abgefeuert worden. Der Leiter der Gebietsverwaltung der betroffenen Region meldete vier Raketeneinschläge. Beschädigt worden seien ein militärisches Objekt und vier Wohnhäuser. Unabhängig sind diese Angaben nicht zu überprüfen.

Berichte über Explosion in Melitopol

Bei einer Explosion in der von russischen Truppen besetzten ukrainischen Stadt Melitopol sind nach Behördenangaben vier Personen verletzt worden. Die Besatzungsbehörden gingen davon aus, dass ein Sprengsatz in einem Mülleimer neben ihrer Lokalverwaltung des Innenministeriums explodiert sei, berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass am Sonntagabend. Es seien ausschließlich Zivilisten zu Schaden gekommen, hieß es. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. Melitopol liegt im ukrainischen Gebiet Saporischschja, das zum Teil von russischen Truppen besetzt ist.

Russischer Minister im besetzten Gebiet

Moskaus Bildungsminister Sergej Krawzow hat am russischen Nationalfeiertag Medien zufolge die ukrainische Region Saporischschja besucht und Gebietsansprüche dort untermauert. Russland sei für immer gekommen, sagte der Minister der Agentur Interfax zufolge in der Stadt Melitopol. «Ich wäre nicht gekommen, wenn es irgendwelche Zweifel gäbe», sagte der 48-Jährige am Sonntag. In einem vom russischen Staatsfernsehsender RT veröffentlichten Video sagte er, dass das Bildungssystem von antirussischen Inhalten befreit, aber auch die ukrainische Sprache weiter unterrichtet werde.

«Das Regime in Kiew hat antirussische Stimmungen geschürt, faktisch eine Propaganda von Nazismus und Faschismus», behauptete Krawzow. Von unabhängiger Seite war nicht überprüfbar, ob er wirklich in dem Kriegsgebiet war. Die russische Führung hatte auch bei den Vereinten Nationen immer wieder eine ideologische Ausrichtung des Lehrmaterials in der Ukraine beklagt. Nun laufe die Vorbereitung der Lehrer, und es würden Lehrbücher geliefert, sagte der Minister.

Das Gebiet Saporischschja ist nach mehr als drei Monaten russischem Angriffskrieg weiter zu einem Teil unter ukrainischer Kontrolle. Das benachbarte südukrainische Gebiet Cherson ist komplett unter russischer Besatzung.

Putin begeht Nationalfeiertag

Während Krawzow den russischen Feiertag in der Ukraine beging, zeigte sich die russische Führung erneut siegessicher in dem Krieg, der am 24. Februar begonnen hat. Kremlchef Wladimir Putin verlieh am Tag Russlands Orden. Das Land stehe geeint und der Heimat ergeben, sagte er. In Moskau gab es ein Autokorso zur Unterstützung der russischen Armee bei deren Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Das Moskauer Außenministerium veröffentlichte eine Grußkarte zum Feiertag zur Erinnerung an Russlands Siege in den Kriegen über die Jahrhunderte - mit der an die Nato gerichteten Zeile: «Wir haben freundlich darum gebeten, sich nicht nach Osten auszudehnen...». Putin hat den Krieg unter anderem damit begründet, dass sich Russland bedroht sehe durch das Streben der Ukraine in die Nato.

EU vor «historischer Entscheidung»

Auf EU-Ebene stehen dazu wichtige Entscheidungen an. Bei einem erneuten Besuch in Kiew kündigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, dass ihre Behörde Ende der Woche ihre Empfehlung darüber veröffentlichen will, ob die Ukraine den Status als EU-Kandidat bekommen sollte. Auf dieser Grundlage müssen die EU-Staaten einstimmig darüber entscheiden, wie es weitergeht. Die Herausforderung werde sein, aus dem EU-Gipfel am 23./24. Juni mit einer einheitlichen Position hervorzugehen, «die die Tragweite dieser historischen Entscheidungen widerspiegelt», sagte von der Leyen.

Die Ansichten der EU-Staaten gehen weit auseinander. Wie Deutschland sich positionieren wird, ist bislang unklar. Die Empfehlung der Kommission dürfte an Reformen geknüpft sein. Die Ukraine habe in den vergangenen Jahren viel erreicht, sagte von der Leyen. Jedoch bleibe noch viel zu tun. Selenskyj sagte, er sei überzeugt, dass mit der Entscheidung über einen Kandidatenstatus auch die Europäische Union gestärkt werden könne.

Selenskyj für seinen Mut ausgezeichnet

Die Auszeichnung erhielt der ukrainische Präsident von der Nemzow-Stiftung, die nach dem ermordeten Kremlgegner Boris Nemzow benannt ist und von dessen Tochter Schanna Nemzowa geführt wird. «Zweifellos hat Wolodymyr Selenskyj unglaublichen Mut an den Tag gelegt», sagte Nemzowa dem kremlkritischen Internetportal Meduza. Es sei nicht selbstverständlich, dass Selenskyj nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Land geblieben ist. Er habe tapfer an der Seite seines Volkes das Land verteidigt, habe Waffen gefordert und sich nicht um seine Sicherheit gekümmert, sagte Nemzowa.

© dpa-infocom, dpa:220612-99-633325/15