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Krieg in der Ukraine
Baerbock: EU muss mit acht Millionen Flüchtlingen rechnen

In Sicherheit
Eine Mutter umarmt in Lwiw ihren Sohn, der aus der belagerten Stadt Mariupol geflohen ist. Foto: Bernat Armangue
Flüchtlinge in der Ukraine
Menschen kommen mit einem Evakuierungszug aus der Region Donezk am Bahnhof von Lwiw an. Foto: Ukrinform
EU-Außengrenze
In der polnischen Grenzstadt Przemysl kommen weiter jeden Tag Tausende Menschen aus der Ukraine an. Foto: Christoph Reichwein
Ankunft in Leipzig
Geflüchtete kommen mit einem Sonderzug in Leipzig an. Foto: Jan Woitas
Notunkerkunft in Sachsen-Anhalt
Geflohene Ukrainer richten sich in einer Sporthalle in Halle an der Saale ein. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert
Geflüchtete im Flughafenhotel
In Frankfurt am Main sind ukrainische Frauen und Kinder in einem Hotel untergekommen. Foto: Sebastian Gollnow
Notunterkunft
Außenministerin Annalena Baerbock (2.v.r.) bei einem Besuch einer Notunterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine in Hannover. Foto: Moritz Frankenberg
Mit jedem Tag des Kriegs in der Ukraine fliehen mehr Menschen nach Westen. Außenministerin Annalena Baerbock wagt eine Prognose für die EU. Die Kritik am Management der Bundesregierung wächst.

Brüssel/Berlin. Außenministerin Annalena Baerbock erwartet Millionen weitere Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. «Wir müssen davon ausgehen, dass es acht bis zehn Millionen Geflüchtete werden in den nächsten Wochen», sagte die Grünen-Politikerin am Montag bei einem EU-Treffen in Brüssel.

Vor zwei Wochen war der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell noch von fünf Millionen ausgegangen. Das Land hatte vor dem russischen Angriff eine Gesamtbevölkerung von mehr als 44 Millionen Menschen. Seither begaben sich schon mehr als drei Millionen auf die Flucht.

In den ersten Kriegstagen seien vor allem Menschen geflohen, die ein Auto hätten oder Verwandtschaft in anderen europäischen Ländern, so Baerbock. Mit zunehmender Brutalität des russischen Vorgehens kämen nun Menschen, «die in Europa niemanden haben, die überhaupt nichts mitnehmen konnten». Aus Sicht der Ministerin muss es deshalb eine gesamteuropäische Lösung geben. «Wir müssen von der Außengrenze direkt in europäische Länder verteilen. Jeder muss Geflüchtete aufnehmen. Die Zahl pro Land werde «in die Hunderttausende» gehen müssen.

Angesichts dieser Entwicklung werfen CDU und CSU der Ampel-Koalition schwere Versäumnisse vor. Bei Bürgern und Hilfsorganisationen gebe es eine «großartige Hilfsbereitschaft», sagte der Partei- und Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz in Berlin. «Wir sehen es gleichzeitig mit einigem Befremden, wie schlecht organisiert der Bund ist, wie wenig abgestimmt und koordiniert der Bund mit den Ländern ist.» Auch einen Flüchtlingsgipfel zwischen Bund, Ländern und Gemeinden habe es noch immer nicht gegeben.

Fast ein Viertel der Ukrainer auf der Flucht

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt verlangte ein «koordiniertes Flüchtlingsmanagement». Dies verweigere die Bundesregierung bisher. Bei den momentan noch überschaubaren Flüchtlingszahlen könne dies funktionieren. Es sei aber absehbar, dass diese steigen. «Und damit droht auch der Kontrollverlust.» Ein Sprecher des Innenministeriums wollte keine Prognose abgeben, wie viele Menschen in Deutschland ankommen könnten. Dies hänge vom Kriegsverlauf ab.

Bislang sind in der Ukraine selbst mehr als 6,5 Millionen Menschen im eigenen Land vertrieben worden. Sie mussten ihre Häuser, Wohnungen, Dörfer und Städte wegen der Raketenangriffe und Bombardierungen verlassen, berichtete die UN-Organisation für Migration (IOM). Hinzu kommen fast 3,5 Millionen Menschen, die in den dreieinhalb Wochen seit Kriegsbeginn nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) über die Grenzen in Nachbarstaaten geflohen sind. Damit ist praktisch ein Viertel der einstigen Bevölkerung betroffen. In der Ukraine lebten vor Beginn der russischen Invasion rund 44 Millionen Menschen. Unter den Geflüchteten waren mindestens 186.000 Menschen aus anderen Ländern.

Keine Angaben zu Deutschland

Dazu, wie viele der Menschen in Deutschland ankommen könnten, wollte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in Berlin keine Prognose abgeben. Dies hänge vom Kriegsverlauf ab und auch davon, wie stark sich die Kämpfe in den Westen der Ukraine verlagerten.

In den ersten Tagen des Krieges seien vor allem diejenigen geflohen, die über ein Auto verfügten oder Verwandtschaft in anderen europäischen Ländern hätten, erklärte Baerbock am Montag. Mit Zunahme der Brutalität des russischen Krieges würden aber nun weitere Menschen kommen, «die in Europa niemanden haben, die überhaupt nichts mitnehmen konnten».

Aus Sicht von Baerbock machen es die Entwicklungen notwendig, die Menschen in ganz Europa zu verteilen. «Wir müssen von der Außengrenze direkt in europäische Länder verteilen. Jeder muss Geflüchtete aufnehmen», sagte sie und schlug eine «eine solidarische Luftbrücke» vor. Die Zahl pro Land werde «in die Hunderttausende» gehen müssen. Zusätzlich sollte auch über den Atlantik verteilt werden.

Großstädte sollen entlastet werden

Innerhalb Deutschlands sollen die Großstädte, neben Berlin München, Köln und Hamburg, nach Angaben eines Sprechers des Innenministeriums entlastet werden. Auch am Montag würden ungefähr 70 Busse eingesetzt, um mehrere Tausend Geflüchtete innerhalb Deutschlands zu verteilen.

Nordrhein-Westfalens Flüchtlingsminister Joachim Stamp (FDP) forderte derweil einen «Masterplan» zur Bereitstellung von einer Million Unterkunftsplätzen für ukrainische Flüchtlinge in Deutschland. Stamp sagte im Deutschlandfunk, dass zwar niemand sagen könne, auf welche Größenordnung man sich einstellen müsse. Es brauche zudem ein Spitzentreffen von Bund, Ländern und Kommunen zur Aufnahme innerhalb Deutschlands. Regierungssprecher Steffen Hebestreit schloss das nicht aus, erklärte aber auf eine entsprechende Frage: «Die Bundesregierung hat sich dazu noch nicht stärker besprochen.»

Der FDP im Bundestag verlangte ein «internationales Krisentreffen» zur Verteilung der Flüchtlinge. «Es muss das Ziel sein der westlichen Länder, dass wir hier an einem Strang ziehen», sagte Fraktionschef Christian Dürr. Es gehe darum, die humanitäre Unterbringung der Geflohenen zu gewährleisten. Er sieht Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in der Pflicht, ein solches Treffen zu initiieren.

Die CDU pochte auf ein «Schutzregister» mit einer zentralen Erfassung der geflohenen Frauen und Kinder sowie der sie aufnehmenden Menschen in Deutschland. Die Helfer sollten sich bei ihrem Ordnungsamt oder ihrer nächsten Polizeidienststelle unbürokratisch in ein solches Register eintragen lassen können, sagte CDU-Generalsekretär Mario Czaja. In Polen funktioniere das gut. «Es wird registriert, wer wo unterkommt und wo wer unterkommt.»

Grüne wollen Krisenstab

Grünen-Chef Omid Nouripour forderte einen ministeriumsübergreifenden Krisenstab im Kanzleramt. Dieser solle die Fäden zusammenhalten und sich um «Kommunikation und Koordination» kümmern. Das Bundesfamilienministerium kündigte an, eine zentrale Koordinationsstelle zur Unterbringung von geflüchteten Waisenkindern aus der Ukraine schaffen zu wollen.

Die Bundesregierung verteidigte derweil ihr Krisenmanagement im Umgang mit den Ankommenden. Es gebe viel Hilfsbereitschaft, lobte Hebestreit. «Ich finde, nach drei Wochen läuft es ganz gut und trotzdem muss uns auch klar sein: Das ist jetzt erst der Anfang.»

In Deutschland sind seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine mehr als 225.000 Kriegsflüchtlinge von der Bundespolizei erfasst worden. Die tatsächliche Zahl dürfte aber deutlich höher sein, weil es im Regelfall keine festen Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen gibt und Ukrainer zudem ohne Visum einreisen dürfen. Allein in Polen kamen bisher rund zwei Millionen Menschen an.

© dpa-infocom, dpa:220321-99-614359/6