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Analyse
Nach dem Urteil: Johnson gefangen im Netz seiner Winkelzüge

Boris Johnson
Das oberste britische Gericht hat die von Premierminister Johnson auferlegte Zwangspause des Parlaments für rechtswidrig erklärt. Großbritannien werde trotzdem am 31. Oktober aus der EU ausscheiden, «komme was wolle», sagte er am Dienstag am Rande der UN-Vollversammlung in New York. Foto: Stefan Rousseau/PA Wire
Im Brexit-Streit wird es für den britischen Premierminister zunehmend bedrohlich. Sein Plan, das Parlament kaltzustellen, ist ihm durch das Urteil des obersten britischen Gerichts um die Ohren geflogen. Welche Optionen hat Johnson noch?

London/New York (dpa) - Als die Vorsitzende des obersten britischen Gerichts, Lady Brenda Hale, am Dienstag ihr Urteil zu der von Boris Johnson auferlegen Parlamentspause verkündete, zierte eine handtellergroße Brosche in Form einer Spinne ihren Kragen.

Beinahe bedrohlich sah das aus, und bedrohlich dürfte für den Premierminister geklungen haben, was Hale mit sanfter Stimme sagte: Einstimmig hätten die elf Richter Johnsons Entscheidung, das Parlament kurz vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober zu suspendieren, als verfassungswidrig verurteilt.

«Die Auswirkung auf die Fundamente unserer Demokratie waren extrem», sagte Hale zu der fünfwöchigen Zwangspause. Mit dem EU-Austritt stehe ein grundlegender Wandel in der britischen Verfassung an. «Das Parlament und besonders das Unterhaus als die gewählte Volksvertretung hat das Recht auf eine Stimme darüber, wie diese Veränderung geschehen soll», so Hale.

Damit ist nun höchstrichterlich festgestellt, was Johnson von seinen Kritikern seit Langem vorgeworfen wird: Dass er versucht, die ungeschriebene britische Verfassung auszuhebeln, um seine Ziele zu erreichen. Doch bislang ist er damit kläglich gescheitert.

Johnson, der es gewohnt ist, flink wie eine Fliege, den Hieben seiner politischen Gegner auszuweichen, hat sich im Netz seiner eigenen Winkelzüge verfangen. Und je mehr er agiert, desto eingeschränkter scheint sein Bewegungsspielraum zu werden.

Die Niederlage vor Gericht ist nur die jüngste in einer Reihe von Schlappen, die Johnson einstecken musste. Noch hat er keine einzige von bisher sechs Abstimmungen im Parlament gewonnen, seit er Ende Juli in den Regierungssitz Downing Street 10 einzog.

Im Gegenteil, seine ohnehin minimale Mehrheit schmolz dahin, auch durch eigenes Zutun: Johnson verbannte 21 proeuropäische Abgeordnete aus seiner Fraktion, nachdem sie gegen ihn gestimmt hatten. Zudem verpflichtete ihn das Parlament per Gesetz dazu, notfalls eine Verschiebung des EU-Austritts zu beantragen, sollte er nicht rechtzeitig einen Deal mit Brüssel zustande bringen. Zwei Mal scheiterte er daraufhin mit dem Versuch, eine Neuwahl herbeizuführen.

Trotzdem droht der Regierungschef weiterhin mit einem No-Deal-Brexit. Großbritannien werde am 31. Oktober aus der EU ausscheiden, «komme was wolle», sagte er am Dienstag am Rande der UN-Vollversammlung in New York. Wie er das Gesetz umgehen will, hat er bisher nicht offenbart. Doch jeder Versuch, Schlupflöcher zu finden, dürfte unweigerlich wieder vor Gericht landen. Was hat Johnson vor?

Manch ein Beobachter glaubt, das alles sei nur Teil eines sinistren Plans seines Beraters Dominic Cummings. Der ehemalige Leiter der Brexit-Kampagne «Vote Leave» im Referendum 2016 sei längst wieder im Wahlkampfmodus, heißt es. Er will Johnson demnach als Verfechter des Volkswillens aufbauen, der gegen die elitären Kreise von Richtern und Abgeordneten kämpft, um das Ergebnis des Brexit-Referendums durchzusetzen. Die «Times» zitierte Cummings kürzlich unter Berufung auf Regierungskreise mit der unheilvollen Ankündigung: «Dies ist erst der Beginn der Verfassungskrise.»

Doch kann das aufgehen? Johnson hat mit der Wiedereinberufung des Unterhauses die Möglichkeit, erneut über eine vorgezogene Parlamentswahl abstimmen zu lassen. Doch die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit scheint noch immer unerreichbar. Die Opposition will auf keinen Fall das Parlament auflösen, bevor ein EU-Austritt ohne Abkommen ausgeschlossen ist.

Im Prinzip bleiben Johnson daher nur zwei Optionen: entweder doch noch rechtzeitig einen Deal mit der EU zu schließen und diesen durchs Parlament zu bringen, oder per Rücktritt oder Misstrauensvotum aus dem Amt zu scheiden und damit früher oder später eine Neuwahl herbeizuführen. Das Problem ist, dass beides mit großen Risiken für den Premier verbunden ist.

Versucht er ein Brexit-Abkommen zu schließen, muss er Zugeständnisse an Brüssel machen und ist dazu noch auf die Unterstützung der Opposition angewiesen. Die dürfte aber kaum gewogen sein, ihm aus der Patsche zu helfen. Scheitert er, dürfte er alle Glaubwürdigkeit bei den Brexit-Hardlinern verloren haben und schlechte Chancen auf einen Erfolg bei einer Neuwahl haben.

Der andere Weg führt über einen Rücktritt als Regierungschef oder ein Misstrauensvotum. Johnson könnte die Vertrauensfrage stellen. Das würde es sehr viel schwieriger für die Opposition machen, eine Neuwahl abzulehnen.

Damit würde aber eine 14-tägige Frist ausgelöst, in der eine alternative Regierung gebildet werden könnte. Zwar ist die Opposition heillos zerstritten, doch es wäre denkbar, dass Labour-Chef Jeremy Corbyn mit Duldung der anderen Oppositionsparteien und der von Johnson geschassten Tory-Rebellen das Ruder übernimmt. Auch Alterspräsident und Ex-Tory-Abgeordneter Ken Clarke hat sich zu Verfügung gestellt. Eine unmittelbare Neuwahl wäre nicht zwingend. Johnson könnte am Ende als Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte Großbritanniens eingehen.

Bericht in der "Times" mit angeblichem Zitat Cummins' (kostenpflichtig)

Analyse auf der BBC-Webseite