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Aus wenigen Sekunden werden Jahre

Bei dem Unfall wird ein junger Mann derart unglücklich getroffen, dass er gegen einen Zaun prallt und noch vor Ort stirbt. Archivfoto: Alfred Drossel
Bei dem Unfall wird ein junger Mann derart unglücklich getroffen, dass er gegen einen Zaun prallt und noch vor Ort stirbt. Foto: Alfred Drossel
Für vier Jahre muss der Autofahrer ins Gefängnis, der nachts auf der Landesstraße eine Fußgängergruppe erfasst hat. Besonders schwer wog für das Gericht, dass der 44-Jährige danach geflohen war, und sprach ihn des versuchten Mordes durch Unterlassen schuldig.

Sachsenheim. Das Urteil ist deutlich: „Wir können überhaupt nicht nachvollziehen, warum Sie so gefahren sind. Und warum Sie danach auch noch weitergefahren sind“, so der Vorsitzende Richter Roland Kleinschroth am Montagnachmittag zu jenem Mann, der in der Nacht des 12. Mai 2019 von hinten drei von vier jungen Menschen erfasst hat, die im Gänsemarsch am Fahrbahnrand der Landesstraße bei Sachsenheim liefen, was einer am Ende mit seinem Leben bezahlte – und den Angeklagten für vier Jahre hinter Gittern bringt.

Denn „selbstverständlich hätten Sie ausweichen oder bremsen können“, schließlich hätte man die Handy-Taschenlampen des vordersten und hintersten Mitglieds der Gruppe bis zu 140 Meter weit sehen können, zitierte er aus einem der vielen Gutachten für den Prozess vor dem Landgericht. Und auch wenn man das nicht unbedingt mit Fußgängern in Verbindung bringen müsse, hätten doch alle Warnsignale angehen müssen, so Kleinschroth. Doch nicht nur das, spätestens 55 Meter vor der Unfallstelle hätte man tatsächlich auch mindestens zwei Personen erkennen können. Warum das der angeklagte 44-Jährige nicht hatte? Er war mit dem Aschenbecher seines neuen Autos beschäftigt. Wie viele Sekunden genau, konnte keiner genau sagen, auch nicht die Gutachten.

Fest steht aber für das Schwurgericht, dass der Sachsenheimer sehr wohl sofort erkannte, was geschehen war. „Jeder, der hier urteilt, sollte bedenken, dass auch ihm ein solcher Fehler unterlaufen kann, eine solche Unaufmerksamkeit.“ Doch für das, was passierte, nachdem das Auto die drei streifte – wobei ein 21-Jähriger so unglücklich gegen einen Zaun prallte, dass er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt –, „kann man kein Verständnis erwarten. Sie überließen es letztlich dem Zufall, ob die Verletzten überleben oder nicht“, warf ihm der Richter mit Blick auf die anschließende Flucht vor. „Man muss sich fragen, wie man sich so gnadenlos über ein Menschenleben hinwegsetzen kann.“

Und der Fahrer habe der Kammer ein Märchen aufgetischt, denn unter anderem seine Sprachnachrichten aus jener Nacht und den anders als sonst gewählten, abgewandteren Parkplatz vor seiner Wohnung zeigten, dass er sehr wohl wusste, dass er Menschen getroffen habe – und nicht etwa Warnbaken, wie er zum Prozessauftakt Mitte Oktober in einer Erklärung hatte verlesen lassen. „Versuchter Mord in zwei Fällen“ lautete deshalb dieser Teil des Urteils, wofür es dreieinhalb Jahre Haft gab, im Gegensatz zu der noch bewährungsfähigen Einzelstrafe von einem Jahr und drei Monaten für die fahrlässige Tötung und Körperverletzung an sich.

Mit seinem Nachtatverhalten habe er sich alles andere als einen Gefallen getan, so Kleinschroth. Man halte ihm zwar zugute, dass er sich am Nachmittag danach stellte. Allerdings wäre die Polizei sicher auch so durch den am Unfallort gefundenen Außenspiegel seines seltenen Autos auf ihn gekommen – und nur deshalb suchte der Angeklagte in jener Nacht auch nach dem Teil, so die Überzeugung des Gerichts. Scharf kritisierte Kleinschroth aber vor allem, dass er erst in seinem Letzten Wort „erstmals Reue zum Ausdruck brachte“ und den 12. Mai als den schlimmsten Tag seines Lebens bezeichnet hatte. Ob er sich als Familienvater keine Gedanken gemacht habe, wie seine Geschichten vor allem auf die Mutter des Toten und dessen Partnerin gewirkt habe, wenngleich man ihm glaube, dass er nach wie vor unter dem Unfall leide, wie der Angeklagte gesagt hatte? So, wie das ebenso für die drei Überlebenden gilt, die sich auch im Zeugenstand Vorwürfe gemacht hatten, weil sie, ortsunkundig, den Weg entlang der Landesstraße wählten, und am Asphaltrand und nicht auf dem feuchten Gras liefen. Sie treffe deshalb, so das Urteil mit Blick auf die Schmerzensgeldforderungen von zwei Opfern, ebenso zu einem Viertel eine Mitschuld. Aber dennoch: Als Autofahrer müsse man jederzeit mit Fußgängern auf der Straße rechnen – ein Freispruch, wie von der Verteidigung gefordert, sei deshalb reines Wunschdenken gewesen, so Kleinschroth, ebenso die von der Staatsanwältin und den Nebenklägern geforderten acht Jahre Haft. Dieses Urteil sei dann doch zu hart.