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Dokument einer Passion

Undogmatische Offenheit: Ex-Bürgermeister Albrecht Sellner präsentiert die neue Ausstellung im Rathaus. Foto: Andreas Becker
Undogmatische Offenheit: Ex-Bürgermeister Albrecht Sellner präsentiert die neue Ausstellung im Rathaus. Foto: Andreas Becker
Das Gerlinger Rathaus zeigt einen Querschnitt durch die Kunstsammlung der Stadt

Gerlingen. Kunst wird groß geschrieben in der schmucken Strohgäukommune zu Füßen von Schloss Solitude. Gefühlt auf Schritt und Tritt begegnet man etwa einem Werk des Bildhauers Fritz von Graevenitz, der einst, als die Domäne Solitude noch dem Stadtgebiet von Gerlingen zugeordnet war, dort oben sein Atelier betrieb und der Stadt zeitlebens eng verbunden blieb. Auch auf den Fluren des Rathauses werden regelmäßig Ausstellungen vorwiegend zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler gezeigt. Vor allem aber unterhält die Stadt Gerlingen eine eigene Kunstsammlung – für ein Gemeinwesen von knapp 20000 Einwohnern keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Der Grund dafür hat einen Namen: Albrecht Sellner heißt der Mann, der 1968 begonnen hat, Ausstellungen im seinerzeit neuen Rathaus zu organisieren. Auch in seiner Zeit als Gerlinger Bürgermeister hat Sellner der Kunst stets einen maßgeblichen Rang eingeräumt. Rund 700 Werke umfasst die Gerlinger Sammlung heute – neben Gemälden auch Grafiken, Skizzen und Skulpturen –, die meisten davon seien als Schenkung in den Bestand eingegangen, vieles stamme aus Nachlässen von Künstlern und Sammlern, sagt Sellner.

Mit der ersten Ausstellung nach der Pandemiezwangspause zeigt die Stadt Gerlingen nun einen Querschnitt durch ihre Kunstsammlung. Über 30 Arbeiten hat Albrecht Sellner mit seinem Bruder Walter, der das Kunstdepot bereits seit vielen Jahren betreut, aus dem Bestand ausgewählt. In erster Linie dokumentiert die Schau die undogmatische Offenheit, mit der Sellner seiner Passion nachgegangen ist: Die Bandbreite des Gezeigten ist auch ein Spiegel seiner Ausstellungstätigkeit – vielfach ging eine Schau mit einer Schenkung einher – und reicht von traditionellen Positionen über die klassische Moderne bis zur Gegenwartskunst.

Lokale Preziosen und Internationales

Im Erdgeschoss wird man von Arbeiten regionaler Maler empfangen, begegnet den post-impressionistischen Strohgäu-Landschaften von Hermann Umgelter und Alfred Lehmann, den aquarellierten Stadtansichten von Otto Schöpfer und Reinhold Goos. Zum direkten Vergleich laden die nebeneinander präsentierten Ölbilder von Leo Bauer und Gustav Jäger ein, haben beide Maler, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und mit nur einem Jahr Abstand, doch eine nahezu identische Übereckperspektive auf Schloss Solitude gewählt – jedoch imaginiert Bauer eine retrospektive „höfische Szene“, während Jäger ein im Schnee versunkenen Baukörper zeigt, der einsam und verloren wirkt.

Zu den Preziosen der Ausstellung zählen auch Werke dreier Bauhaus-Schüler, insbesondere das wundervolle Blatt „Sonate mit Gong“ (1978) von Heinz Nowag, eine delikate Aquarell- und Tuschzeichnung, die den Einfluss von Kandinsky und Klee, bei denen der in Ulm geborene Künstler studiert hat, nicht verleugnet, sondern geradezu zu feiern scheint. Auch Heinrich Neuy hat in Dessau studiert, sein Aquarell „Zusammenklang (Architektur für eine bessere Welt)“ (1987) steht ganz ungebrochen in der Tradition eines abstrakt-geometrischen Konstruktivismus. Paul Reichle war Bauhaus-Schüler in Weimar, später im Atelier der Stuttgarter Werkbundausstellung mit Willi Baumeister zu finden, sein Acrylgemälde „Bild Nr. 1“ besticht als zeitlose Komposition.

Gleich zweimal vertreten ist Anton Stankowski: Während „Diagonale über Quadrat“ (1973/1998) die Ästhetik konkreter Kunst repräsentiert, für die der Grafiker weithin bekannt wurde, besitzt „Reben im Gerlinger Weinberg“ (1952) einen ganz anderen Charakter: Lyrisch und reduziert, gehört das frühe Aquarell zu den schönsten Arbeiten hier. Oft sei „Stanko“ in seinem Weinberghäschen anzutreffen gewesen, wie Sellner erinnert. Mit Roland Bentz, Fritz Genkinger und Hans Mendler sind einige der einschlägigen Lokalmatadore vertreten. Auch der 2018 in Besigheim verstorbene Adam Lude Döring fehlt nicht. Doch der Fokus ist keineswegs auf die Region beschränkt: Internationale Positionen kommen etwa von der US-Amerikanerin Susan Osgood, dem Italiener Lorenzo Viola, dessen grandioses Tafelbild „Schwarzer Tisch mit Rotwein“ (1989) ein weiteres Highlight darstellt, und dem Ungarn Ádám Misch mit dem Aquarell „Die Zeit steht nicht still“ (ebenfalls 1989).

Info: Die Ausstellung ist bis zum 27. Februar 2022 im Gerlinger Rathaus zu sehen.