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„Es braucht Orte der Erinnerung“

Oberbürgermeister Matthias Knecht begrüßt auf dem Ehrenfriedhof die Gäste der Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag,Foto: Ramona Theiss
Oberbürgermeister Matthias Knecht begrüßt auf dem Ehrenfriedhof die Gäste der Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag, Foto: Ramona Theiss
Totengedenken in Neckarweihingen, Poppenweiler und auf dem Ehrenfriedhof – Schüler blicken auf die letzten Kriegstage

Ludwigsburg. Auf dem Neckarweihinger Aufriedhof, dem Friedhof in Poppenweiler und auf dem Ehrenfriedhof an der Schorndorfer Straße ist am gestrigen Volkstrauertag der Opfer von Gewalt und Krieg in aller Welt gedacht worden. „Wir erinnern heute vor allem an die Opfer von Kriegen, aber auch allgemein an die Opfer von Verbrechen und Gewalt“, sagt Oberbürgermeister Matthias Knecht, bevor er auf dem Ehrenfriedhof das Totengedenken verliest.

Anschließend legen der OB sowie Vertreter des Bundeswehr-Landeskommandos Baden-Württemberg, der Reservistenkameradschaft Ludwigsburg, des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, des Sozialverbands Baden-Württemberg, der Landsmannschaft Schlesien sowie der Marine-Kameradschaft 1934 Ludwigsburg jeweils eigene Kränze nieder. Bereits zuvor hatte die Reservistenkameradschaft Ludwigsburg zu einer Kranzniederlegung am Ehrenmal des Regiments Alt-Württemberg auf dem Arsenalplatz geladen.

An der Gedenkveranstaltung auf dem Ehrenfriedhof beteiligt sich auch der Leistungskurs Geschichte des Friedrich-Schiller-Gymnasiums. Die Schüler haben sich mit dem Tagebuch von Günter Otto Schrecke befasst. Der damals 15 Jahre alte Ludwigsburger hatte in seinem Tagebuch 1945 regelmäßig seine Beobachtungen während der letzten Kriegsmonate und nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 notiert.

Ein Leben lang von NS-Propaganda manipuliert

Die Schüler des Schiller-Gymnasiums tragen verschiedene Stellen aus dem Tagebuch vor. Diese sind vor allem deshalb interessant, weil sie Einblicke in die Gedankenwelt eines jungen Menschen bieten, der in einem totalitären Staat aufgewachsen ist. Schrecke war drei Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen –als er als 15-Jähriger beschloss, ein Tagebuch zu führen, war der junge Mann praktisch sein gesamtes Leben lang von NS-Propaganda manipuliert worden.

Diese Gehirnwäsche bricht in den Aufzeichnungen immer wieder durch. Einerseits beschreibt Schrecke, dass viele seiner Mitschüler befürchten, in den letzten Kriegsmonaten noch von der Wehrmacht eingezogen zu werden. Die NSDAP hatte damals die Wehrpflicht für alle waffenfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren ausgerufen, dieses letzte Aufgebot sollte als Volkssturm den „Heimatboden“ vor den unaufhaltsam voranrückenden Alliierten schützen. „Viele hoffen, sich dieser Pflicht zu entziehen“, notiert Schrecke.

Andererseits glaubt er bis zuletzt an den deutschen Sieg. Das hält er auch am 28. März 1945 noch fest, als die Schlacht um Breslau tobt. Der britische Historiker Norman Davies schätzt, dass bei den Kämpfen zwischen dem 15. Februar und dem 6. Mai 1945 etwa 170 000 Zivilisten, über 6000 deutsche und rund 13000 sowjetische Soldaten getötet wurden. „Es lebe der Führer“, schließt Schrecke seinen Tagebucheintrag.

Erst in den allerletzten Kriegstagen ist er bereit, die sich längst abzeichnende Niederlage anzuerkennen. Die Propaganda hat ihre Spuren hinterlassen: Der junge Ludwigsburger hadert mit seinen Landsleuten, die sich aus seiner Sicht ohne Gegenwehr in ihr Schicksal fügen. „90 Prozent des deutschen Volkes besteht aus jämmerlichen Hunden und Waschlappen“, schreibt er am 26. April 1945, „nur jeder 450. Deutsche ist ein richtiger Nazi“.

Kriegsschrecken werden verharmlost

Schrecke habe bewusst versucht, die Schrecken des Krieges zu verharmlosen und den Krieg als Nebensächlichkeit darzustellen, lautet die Einschätzung eines Schülers des Schiller-Gymnasiums. In der Tat erstaunt die Gelassenheit, mit der ein 15-Jähriger die allgegenwärtige Bedrohung kommentierte. Feindlichen Artilleriebeschuss etwa bezeichnet er als „lächerlich. Aber wenn man einen Splitter im Kopf hat, spürt man das“.

Eines Morgens freut er sich über die wärmende Frühlingssonne und beobachtet kurz darauf ein Dutzend Jagdbomber, die Bietigheim, Benningen und Neckarweihingen bombardieren. „Nach dem Bombenalarm hat man eine halbe Stunde Zeit, den Keller aufzusuchen, dann passiert nichts“, notiert Schrecke lakonisch im Tagebuch.

Die Gedenkrede hält Pastoralreferent Ludger Hoffkamp von der katholischen Kirche. Er erinnert sich daran, dass er vor einigen Jahren die Mutter eines Freundes beerdigte. Einer ihrer Söhne war im Zweiten Weltkrieg in der Normandie gefallen. Wo genau, blieb auch nach Kriegsende unklar. Lange Jahre war die Mutter immer wieder mit ihrem anderen Sohn nach Nordfrankreich gefahren, um das Grab des Gestorbenen zu finden. „Sie fand es nicht“, so Hofkamp. „Somit fand sie auch keinen Ort, an dem sie ihrem Sohn wiederbegegnen konnte.“ Erinnerung aber sei an konkrete Orte gebunden, sagt der Pastoralreferent. Nicht zuletzt, um sich darüber klar zu werden, was das eigene Leben bedeutet. Das Gedenken an die Toten verdeutliche nicht zuletzt, dass die menschliche Würde unantastbar ist. „Es braucht Orte der Erinnerung“, betont Hofkamp.