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Gezielte Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge

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350_0900_40146_20200122_Landrat_Dietmar_Allgaier_148_Pre.jpg Foto: Landratsamt
Etwa 1000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind bislang im Landkreis angekommen. Wie viele es genau sind, kann keiner so genau sagen. Eine Handvoll von ihnen dürften auf ein neues Angebot hoffen, das der Sozialausschuss des Kreistags einstimmig billigte: die Unterstützung bei der Bewältigung eines Traumas.

Kreis Ludwigsburg. Die Bilder und Berichte schockieren. Russische Raketen schlagen ein, Panzer überrollen Zivilisten. Mitten im Kampfgebiet sind Frauen und Kinder, die fliehen. Viele lassen ihre Männer und Väter zurück. Die wollen ihre Heimat verteidigen. Familien werden auseinandergerissen. Das hinterlässt auch Wunden an der Seele.

Wie berichtet, sind die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine, die bereits im Kreis angekommen sind, bislang privat untergekommen. Am Freitag wurden die ersten 70 vom Land zugewiesen. Sie werden in einem Ditzinger Hotel und in der Ludwigsburger Jugendherberge einquartiert. „Wir wissen nicht, was alles auf uns zukommen wird“, bedankte sich Landrat Dietmar Allgaier bei der überwältigenden Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung. Hier werde ein unverzichtbarer Beitrag zur Lösung der Krise beigetragen. Dennoch: Bei 100 Menschen, die täglich im Kreis in den nächsten Wochen erwartet werden, sei auch die erneute Belegung von Sporthallen nicht auszuschließen.

„Wir stehen vor riesigen Herausforderungen“, so der Chef der Kreisverwaltung. Denn mit einem Dach über dem Kopf und einem Bett sei es alleine nicht getan. „Wir müssen Sprachkurse, Kinderbetreuung und Schulunterricht organisieren. Ganz abgesehen von der klinischen Versorgung der Menschen mit Kriegsverletzungen.“

Es gibt allerdings Verwundungen, die nicht operiert werden können: die sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Die äußern sich in Schlafstörungen, Angst- und Panikattacken, Depressionen bis hin zur Suizidgefahr, körperlicher und psychischer Beschwerden.

Bereits 2019 wurde im Kreis eine Traumasprechstunde eingerichtet, die von 73 Geflüchteten in Anspruch genommen wurde. Bei der Hälfte wurden Symptome von PTBS diagnostiziert. Sie brauchen eine besondere sozialpädagogisch-medizinische Betreuung. Die ist in herkömmlichen Gemeinschaftsunterkünften nicht zu leisten. Das sei für Betroffene wie Mitbewohner problematisch und konfliktbehaftet, wurden die Mitglieder des Sozialausschusses im Kreistag informiert. In Abstimmung mit Dr. Jürgen Knieling, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Krankenhaus Bietigheim, der Vorsitzenden der Kreisärzteschaft, Dr. Carola Maitra, Dr. Robin Maitra, dem Menschenrechtsbeauftragter der Landesärztekammer und dem Gesundheitsdezernat des Landkreises wurde ein spezielles Wohnangebot für Geflüchtete mit PTBS in der vorläufigen Unterbringung entwickelt: In einem Stockwerk einer Gemeinschaftsunterkunft in Ludwigsburg sollen ab sofort bis zu neun alleinstehende Männer spezialisierter versorgt werden als im üblichen Rahmen der Sozialbetreuung möglich. Aufgrund ihrer besonderen Belastung werden die Bewohner in der Unterkunft überwiegend in Einzelzimmern untergebracht, um ihnen ein möglichst reizarmes Wohnumfeld zu bieten. Ein weiterer Schwerpunkt wird auf Gruppenangebote sowie eine interprofessionelle Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften gelegt. Die Betreuung erfolgt durch eine interdisziplinäre Kooperation verschiedener Fachgebiete aus Ärzten und Sozialpädagogen. Ein Dolmetscher wird deren Arbeit erleichtern. Des Weiteren ist der Einsatz eines Allgemeinmediziners auf Honorarbasis zur Behandlung der auftretenden körperlichen Beschwerden geplant.

Die Klienten aus der vorläufigen Unterbringung sollen während der Zeit in der Wohngruppe soweit stabilisiert sein, dass zum Zeitpunkt des Auszugs ein Behandlungsplan für das weitergehende Vorgehen sowie ein feststehendes Netz etabliert sind. Dieses Netz soll auch nach dem Umzug in eine Unterkunft der kommunalen Anschlussunterbringung oder in eine Privatwohnung tragfähig sein und dem traumatisierten Geflüchteten eine realistische Perspektive bieten, steht in der Beschlussvorlage für den Kreistag. Optimalerweise sei zu diesem Zeitpunkt auch bereits ein therapeutischer Prozess sowie das individuelle Wissen über eigene Entlastungsstrategien eingeleitet. Damit soll dem Auftreten von Krisen auch nach Entlassung aus der Wohngruppe entgegengewirkt werden.

Es handle sich bei der geplanten Wohngruppe um ein einzigartiges „Leuchtturm-Projekt“. Es ist bis Ende 2023 befristet. Für die Aufnahme in die Wohngruppe sind folgende Voraussetzungen erforderlich: Der Geflüchtete muss sich nach Vorschlag durch den Sozialdienst in der Trauma-Sprechstunde zur Diagnostik vorstellen sowie durch das Gesundheitsamt des Landkreises begutachtet werden. Für die umfassende Betreuung und Therapie wurden knapp 120000 Euro bewilligt.

Julian Göttlicher von den Freien Wählern fühlte sich nicht wohl dabei, dass der Ukraine-Krieg mit all seinen Folgen als Randnotiz im Sozialausschuss „abgevespert“ wurde. Er fühlte sich in den Bundestag versetzt, als ebenfalls einfach zur Tagesordnung übergangen wurde. „Ich hätte mir angesichts der Lage eine Aussprache gewünscht, bei der einem nicht die Zeit im Nacken sitzt.“