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Neue Wege zur klassischen Musik

Das Stegreif-Orchester in Aktion: Helena Montag, Mon-Puo Lee und Franziska Aller musizieren am Schillerdenkmal. Foto: Andreas Becker
Das Stegreif-Orchester in Aktion: Helena Montag, Mon-Puo Lee und Franziska Aller musizieren am Schillerdenkmal. Foto: Andreas Becker
Vor dem Nationalmuseum stimmt ein 13-köpfiges Ensemble Beethovens Musik an. Foto: Andreas Becker
Vor dem Nationalmuseum stimmt ein 13-köpfiges Ensemble Beethovens Musik an. Foto: Andreas Becker
Eine Tänzerin wiegt sich auf der Neckarblickterrasse im Rhythmus von Gitarrenklängen. Foto: Andreas Becker
Eine Tänzerin wiegt sich auf der Neckarblickterrasse im Rhythmus von Gitarrenklängen. Foto: Andreas Becker
Stegreif-Orchester stellt Interpretation von Beethovens Neunter Sinfonie in Marbach vor - Auftakt mit Mini-Wandelkonzert

Marbach. Ursprünglich sei ein Wandelkonzert geplant gewesen, verrät Schlossfestspiel-Intendant Jochen Sandig – und zwar im XXL-Format. Am 9. Mai 2020, am 215. Todestag Schillers, hätte es von Marbach, seinem Geburtsort, bis in den Ehrenhof des Ludwigsburger Residenzschlosses führen sollen, also gewissermaßen ins ideelle Zentrum der Ludwigsburger Schlossfestspiele (LSF).

Das Programm, passend zum Beethoven-Jubiläum und in Kooperation mit dem Podium Esslingen: Eine Interpretation der 9. Sinfonie, die bekanntlich mit einer Vertonung von Schillers Ode „An die Freude“ in einem Chor-Finale gipfelt, durch das Stegreif-Orchester. Nachdem die ambitionierte Konzertwanderung auch in diesem Jahr pandemiebedingt nicht stattfinden konnte, wurde das Konzept modifiziert und in die Reihe der Herbsttermine integriert, mit denen die Schlossfestspiele nun versuchen, zumindest einen Teil der für 2020 und 2021 geplanten, aber ausgefallenen Programmpunkte außerhalb der eigentlichen Saison nachzuholen.

Deutlich verkürzt in Dauer und Distanz – anstelle der Strecke Marbach-Ludwigsburg beschränkte sich der Radius der Veranstaltung auf die Schillerhöhe – stand einer Aufführung am Samstagabend nichts mehr im Wege.

Auch das Wetter spielte mit. Eine Schar Heißluftballons steht hoch über dem Schiller-Nationalmuseum, als Helena Montag (Querflöte), Mon-Puo Lee (Cello) und Franziska Aller (Kontrabass) sich gegenüber um das Denkmal des Dichters zum Trio gruppieren. „I don’t fear any-thing at all“, intoniert Montag, während Lee und Aller eine Art melancholischen Weltkammerjazz mit orientalischem Einschlag um deren Vokalisen weben. Kaum ist der Befall der Umstehenden verklungen, macht ein 13-köpfiges Ensemble schwarz gekleideter Musikerinnen und Musiker auf sich aufmerksam, die sich in einem flachen Bogen vor dem Mittelrisalit des Nationalmuseums aufgebaut haben und die Einleitung des Kopfsatzes von Beethovens letzter Sinfonie anstimmen, um sich nach wenigen Takten in auseinanderstrebende Gruppen aufzulösen. Wer der Posaune folgt, erlebt eine sich im Rhythmus der Gitarre wiegende Tänzerin auf der Neckarblickterrasse vor dem LiMo, ein Quintett zwischen Nationalmuseum und Archivgebäude entlässt Klezmerklänge in die abendliche Frische.

2015 gegründet, versteht sich das Stegreif-Orchester um den Hornisten Juri de Marcos als „improvisierendes Sinfonieorchester“. Aufgebrochen, neue Wege zur klassischen Musik zu eröffnen, pflegen sie eine Konzertform zwischen Rekomposition und Improvisation mit choreographischen Elementen. Beide Expertisen – performative Kompetenz und Improvisationsvermögen – kommen ihnen zugute, als sich ein Polizeihubschrauber der Schillerhöhe nähert: Die Streicher fordern bogenschwenkend zur Landung auf, der Klarinettist wirbelt sein Instrument als Propeller durch die Luft. Wiedervereint am Denkmal, erklingt die ikonische Melodie, die auch als Europahymne bekannt ist, woraufhin das Orchester den Weg in die Stadthalle antritt. Dort folgt nach einer großzügig bemessenen Einlasspause, wovon die Freilust-Klanginstallation eine Kostprobe gab: Eine Interpretation der Neunten, die den Beethoven’schen Notentext mit Volksliedern aus ganz Europa verschränkt und so den von Schiller formulierten und von Beethoven mit großer Emphase in Szene gesetzten Gedanken der Völkerverständigung wörtlich nimmt. Meist instrumental, mal aber auch gesungen – wie bei Boris Vians Chanson „Le déserteur“ oder „Caballo Viejo,“ dem vielfach adaptierten Welthit des venezuelanischen Komponisten Simón Díaz – werden die Folklore-Elemente geschickt mit Arrangements der Originalpassagen von Uri Caine, Juri de Marco, Alistair Duncan und Bertram Burkert verwoben. Im Maracatu-Rhythmus wiegt sich das Orchester wie eine Sambatruppe. Zur Kurzweiligkeit tragen auch die Kostüme von Sophie Schliemann sowie Andreas Harders Lichtdesign bei, vor allem aber die Choreografie von David Fernandez, der als Cellist auch für die Regie verantwortlich zeichnet.

Begeisterter Applaus der rund 120 maskierten 3G-Besucher in der mit reichlich Abstand bestuhlten Stadthalle.