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Systemkritisches mit modernem Anstrich

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Probenarbeiten im alten Kino: Odoardo (Raik Singer) und Claudia Galotti (Katrin Bayer).Foto: Oliver Bürkle
Mit der Uraufführung einer Neufassung von „Emilia Galotti“ werden kommende Woche die Marbacher Theaterfestspiele eröffnet

Ludwigsburg. Marbach. Odoardo Galotti wird jetzt richtig laut: „Ich kenne nur eins, was schlimmer ist als der Tod!“ Von manchem Beobachter des zeitgenössischen Theaters wird dessen Affinität zum geschrienen Text ja vor allem als Störung empfunden, mindert der Lärm doch den Komfort in den gut gepolsterten Sitzen. Aber erstens sind wir hier bereits im vorletzten Akt dieser „fremdgesteuerten Tragödie der Leidenschaften“, wie Philipp Wolpert (21) und Tobias Frühauf (24), die jungen Macher des Theaterlabels Tacheles und Tarantismus (T&T), ihre Fassung des Repertoiretheaterklassikers „Emilia Galotti“ charakterisieren, mit deren Uraufführung die erstmals stattfindenden „Marbacher Theaterfestspiele“ am 28. Juni auf dem Burgplatz eröffnet werden, und zweitens hat die Gräfin Orsina, laut Programmheft eine „verflossene Eskortdame“, Emilias Vater mit ihren gezielten Indiskretionen über ein Verhältnis seiner Tochter mit ihrem Ex-Geliebten, dem Senator Hettore Gonzaga, „demokratisch legitimiertes Staatsoberhaupt“, auch wirklich in Rage versetzt – und nebenbei noch mit dem Dolch ausgestattet, der in Lessings bürgerlichem Trauerspiel zum Tod von Emilia durch die Hand des Vaters führt. Was in Marbach passieren wird, muss an dieser Stelle offen bleiben. „Und, Alter, wirkt’s schon?“, fragt, während der 1963 in Leipzig geborene Raik Singer seinen Odoardo weiter ausrasten lässt, Nachwuchsschauspielerin Rebekka Wurst, der als Orsina auch der Satz in den Mund gelegt ist, der als Übertitel über dieser „Menschenstudie nach Motiven von Gotthold Ephraim Lessing“ steht: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“

 

Solche Zitate in dynamische Dialoge einzubetten, sei eines der Mittel seiner Textfassung gewesen, um eine Antwort auf die Frage zu geben, wie man diesem „rauf- und runtergespielten Stück“ neue Impulse abgewinnen könnte, sagt Frühauf und spricht von „cineastischen Wortwechseln“. Auch in Handlungsfäden habe er eingegriffen, so der Autor. Allzu viel möchte er aber noch nicht verraten. Auf manches habe er verzichtet, manches wurde reduziert – so spielt Thomas Feyerabend den Grafen Appiani, Emilias Geliebten, als stumme Rolle –, andere Figuren finden sich aktualisiert wie die des von Gunnar Schwarm, ebenfalls einer der lokalen Newcomer, dargestellten Marinelli, bei Lessing ein Kammerherr des Prinzen Gonzaga, hier „Vertreter eines börsennotierten Kreditinstituts“. Zudem hat Frühauf mit der Figur des Papa Joe, „Gastronom eines Fastfood-Restaurants“ und dessen Tochter, gegeben von den Nachwuchsschauspielern Uwe Petruschka und Lara Totsche, weiteres Personal eingeführt, in dessen Namen das Konzept des Brecht’schen Verfremdungseffekts anklingt. Trotz aller Änderungen habe er versucht, der ursprünglichen Intention treu zu bleiben, meint Frühauf: Staatswillkür, Lobbyismus, Individualisierung – all diese Themen fänden sich schon bei Lessing angelegt. Wie dort die„Schattenseiten der Ich-Entfaltung“ die Handlung vorantreiben, habe ihn zu einem „Kabinett der Anti-Helden“ geführt, so Frühauf – wobei Emilia davon ausgenommen sei.

 

Die individuelle Tragödie als Metapher für das gesellschaftliche Ganze, so sieht er seine „Emilia Galotti“, in der das Verhältnis von Politischem und Privatem zur Grundlage einer „Systemkritik“ werde. Mit modernem Anstrich freilich: „Kunst geht nach Burger“ statt „Kunst geht nach Brot“ wird sein „perverser Kunstschaffender“ Conti Lessings indirekte Anfrage einer Gehaltserhöhung variieren. Zudem gehören Austausch und Zusammenarbeit von Profis und Amateuren zum eher unkonventionellen Ansatz.

 

Auch in Sachen Musik gehen T&T wenn nicht ganz neue, so doch andere Wege: Statt singender und musizierender Schauspieler oder einer Band gibt es einen Plattenspieler – auf dem hauptsächlich Musik des Minimal-Folk-Exzentrikers Moondog zu hören sein wird: „Immer, wenn Marinelli eine Platte auflegt, kommt jemand um“, verspricht Wolpert. Und Emilia? Wer weiß das schon: Leah Wewoda ist an diesem Abend nicht da – Emilia hat frei.

 

Weitere Infos zum Spielplan und zum Vorverkauf unter www.marbacher-theaterfestspiele.de.