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Untiefen einer Kleinstadt

Viele Gespräche und ein Einbruch: Barbara Ungepflegt beim Start des Projekts. Archivfoto: Ramona Theiss
Viele Gespräche und ein Einbruch: Barbara Ungepflegt beim Start des Projekts. Foto: Ramona Theiss
Die Aktionskünstlerin Barbara Ungepflegt blickt auf drei Wochen im Buswartehäuschen zurück

Gerlingen/Wien. Für die Wienerin Barbara Ungepflegt war es eine Art dreiwöchiger Crashtest in der schwäbischen Kleinstadtidylle. Wie ticken die Leute hier? Und ist das alles wirklich so friedlich, wie es scheint? Diese Fragen nahm die 45-jährige Österreicherin mit auf ihre Reise, als sie sich im Oktober im Buswartehäuschen am Gerlinger Rathausplatz häuslich einrichtete, um zu sehen und gesehen zu werden, als eine von zahlreichen Aktionen des Festivals „Unter Beobachtung“ der Kulturregion Stuttgart.

Die Künstlerin, die im Alpenland das vermeintliche „Bundesministerium für Heimatschmutz und internationale Affären“ betreibt und eine ähnliche Aktion bereits 2017 in Wien startete, zieht ein positives Fazit. Sie hat der Stadt auf den Zahn gefühlt und neue Perspektiven gewonnen. Die Menschen hätten gerade durch die Coronakrise eine besondere Sehnsucht danach gehabt, mal ein wenig zu sprechen, glaubt Barbara Ungepflegt (eigentlich Kremser), die angesichts der oftmals kühlen Temperaturen stets dagegen ankämpfte, sich zu erkälten, um nicht als Corona-Verdachtsfall eingestuft zu werden und das Experiment abbrechen zu müssen. „Viele haben sich zu mir aufs Sofa gesetzt“, sagt sie am Telefon. „Das war für manche wie eine Psychotherapie.“

So hielten denn auch die kleinen und größeren Dramen des Alltags Einzug in das Buswartehäuschen. Etwa der Junge, der sie immer wieder besuchte und ihr erzählte, dass er daheim das Essen koche und aufräume, weil die Schwester tot und die Mutter in der Psychiatrie sei. Er wolle eines Tages auch mal etwas mit Kunst machen, erklärte er der Wienerin dann eines Tages, da war sie ganz gerührt. Natürlich hätte sie tagsüber sehr viel nette Gesellschaft von Rentnern gehabt, erzählt sie, während abends eher die Jugendlichen bei ihr strandeten. Es gebe keinen richtigen Ort für sie, sich mal in Ruhe zu treffen, erzählten diese, um dann im nächsten Atemzug von Problemen mit der Polizei zu berichten, die einmal mit Hunden angerückt sei. „Wenn nichts los ist, ist es natürlich spannend, wenn es etwas Reibung gibt“, sinniert Ungepflegt. Ganz ohne Grund sei die Polizei sicherlich nicht gekommen. Aber: „Die jungen Leute waren ganz höflich zu mir.“

Trotz der Kleinstadtidylle mit ihren erstaunlich vielen dicken Autos sei es doch recht anstrengend gewesen, tagsüber immer „in der Auslage“ zu sein, wie die Künstlerin sagt. Schließlich lebten die meisten Menschen in Gerlingen eben ganz anders, will heißen: ruhig, zurückgezogen. Aber das macht für Barbara Ungepflegt ja gerade den Reiz dieses Experiments aus: Die Kunst muss raus aus der Wohlfühlzone („safe space“) – „sonst wird es ja langweilig.“

Fast täglich hatte sie Besuch von einer scheinbar Obdachlosen, die sich dann doch eher als Messi entpuppte, mit 14Christbäumen auf dem Balkon und drei Einbauküchen im Keller – und einem Vermieter, der sie demnächst rauswerfen wird. Auch sie habe wahrscheinlich eine psychische Ausnahmesituation, ein schweres Schicksal erlitten, vermutet Barbara Ungepflegt. „Das tut einem schon sehr leid – ich habe ihre Verzweiflung verstanden.“ Neben einem offenen Ohr hat sie ihr hin und wieder etwas zum Essen angeboten oder ihr eine Pfandflasche als Spende zugesteckt. Gleichzeitig hat sie immer versucht, in ihrer künstlerischen Rolle zu bleiben, auch zum Selbstschutz. Sie sei schließlich keine Sozialarbeiterin, das müssten in schweren Fällen doch andere leisten.

Unsicher fühlte sie sich zu keiner Zeit, sagt Ungepflegt. Dennoch: Ausgerechnet am letzten Tag des Projekts musste sie in ihrem Domizil morgens einen Einbruch feststellen. Das Umhängeschloss war aufgeknackt, aber nur Bonbons und Obst entwendet, ein paar Dinge durcheinandergeraten. Sogar der gute Schnaps war noch da. Kein Wunder, folgt man den Beobachtungen der Wienerin: „Während der ganzen Zeit habe ich hier keinen einzigen Betrunkenen gesehen.“

Neben den rund zwei Dutzend Din-A4-Seiten „Tagebuch“ hat Barabara Ungepflegt Zettel, Briefe, Nachbarschaftszeitungen und Broschüren nach Wien mitgebracht, um all das für ihre Doktorarbeit über eskapistische, also scheinwirkliche Orte auszuwerten. Ihre Erkenntnisse hat sie auch schon mit Bürgermeister Dirk Oestringer geteilt, der sich für viele der Themen offen zeigte, die ihm ja oft auch nicht ganz neu waren. Generell hat sie einen Rat für Politiker: „Jeder von ihnen sollte sich mal länger in eine Bushaltestelle setzen – dann kriegt er auch wirklich etwas von den Menschen mit.“