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„Wir müssen für Veränderungen streiten“

In seiner Predigt setzte sich der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider (Vierter von links) mit der Bergpredigt auseinander. Foto: Alfred Drossel
In seiner Predigt setzte sich der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider (Vierter von links) mit der Bergpredigt auseinander. Foto: Alfred Drossel
Sich kurz auf die Schulter klopfen zur gloriosen Historie – und dann übergehen zu den Herausforderungen der Gegenwart: So wurde in der Stadtkirche und danach beim Podiumsgespräch im Gemeindehaus der 100. Jahrestag des „Bietigheimer Tages“ begangen.

Bietigheim-Bissingen. Einst als Tag des Dialoges zwischen evangelischer Kirche und sozialdemokratischer Arbeiterschaft ins Werk gesetzt, wurde der Bogen zum Jahr 1921 auch im aktuellen Motto gespannt: „Zuhören, verstehen, anstoßen“. In seiner Begrüßung betonte Thomas Reusch-Frey, der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, der Bietigheimer Tag sei „über all die Jahre eine attraktive Gelegenheit der Begegnung“ geblieben. Von der Gründung in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg, über das Verbot durch die Nazis, einem Meilenstein wie der Ausrufung des Grundgesetzes samt späterer Debatten um „Krieg, Frieden und Rüstung“. Stets sei es gelungen, die Herausforderungen der Zeit aufzunehmen, Menschen zusammenzuführen und miteinander ins Gespräch zu bringen“. Besonders freue er sich, dass eine Enkelin des Gründers Hans Voelter am Jubiläum teilnehme.

Mit Spannung erwartet wurde die Themenpredigt von Nikolaus Schneider, dem vormaligen EKD-Ratsvorsitzenden. „100 Jahre Bietigheimer Tag, das ist eine Hausnummer! Herzlichen Glückwunsch zu dieser beachtlichen Tradition, auf die Sie stolz sein können“, sagte er. Im Sinne dieser Tradition mit ihrem „beachtlichen Anfang“ gelte es, „stets neu um Zusammenhalt zu ringen und für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten“. Leitmotiv seiner Predigt war dann die Forderung aus der Bergpredigt, Christen sollten „das Salz der Erde“ sein, wobei er Luthers Weiterübersetzung genial nannte: „Wenn nun das Salz dumm wird, womit soll man salzen?“ Basis seiner Ausdeutung des biblischen Bildwortes war der Hinweis, Salz wirke gegen Fäulnis und verschaffe „dem Guten Haltbarkeit und Beständigkeit“. Von gegensätzlicher Wirkung sei „Opium aller Art“, das die Bereitschaft zerstöre, „Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit zu übernehmen“. Denn gefordert sei „ein realistischer Blick auf heutige Probleme und der Mut zu unbequemen Wahrheiten“. Nur so lasse sich „ein Heilungsprozess anstoßen“.

Gleichwohl solle sich niemand „im Besitz einer absoluten Wahrheit“ wähnen, sonst werde man „dummes Salz und verdumme Menschen“. In gegenseitigen Respekt gelte es, das Motto des Bietigheimer Tages beim Wort zu nehmen: „Zuhören, verstehen, anstoßen.“ Es gehe darum, „für Veränderung zu streiten. Sonst setzen wir die Zukunft unserer Kirche, unserer Kinder, Enkel und der Erde aufs Spiel“, was Schneider so zusammenfasste: „Ohne nachhaltige Veränderungen verspielen wir die Zukunft.“

Neben der „menschlichen Verantwortung für die Schöpfung“ beinhalte dies auch, „sich um Schwache und Benachteiligte, um Alte und um Flüchtlinge zu kümmern“, nur so behalte die Kirche ihre Relevanz. Nötig sei „ein widerständiges Gottvertrauen“, das davor bewahre „zynisch zu werden und in apokalyptische Verzweiflung zu fallen“. Schneider schloss mit einem Segen, für den er sich ein Wort des 2005 verstorbenen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch lieh: „Feinde in Freunde verwandeln, Kraft, um aufzustehen für einen neuen Anfang, damit der Hass die Welt verlasse und die Liebe in allen Menschen wohne.“

Oberbürgermeister Jürgen Kessing erinnerte daran, wie sehr „wir unseren Wohlstand ganz wesentlich den Unternehmen verdanken, deren Kontakte in die ganze Welt gehen“. Einander zuzuhören, Verstehen und Anstöße zum Nachdenken oder zur Veränderung geben, sei „in einer Stadt wie Bietigheim-Bissingen ein permanentes Anliegen“. Angesichts von Fluchtbewegungen von Menschen rund um die Welt, die auch gerne so gut leben wollen, wie wir es können“, spiele man gleichwohl „nicht einfach Gutmensch ohne Blick für das, was um uns herum geschieht“. Dann betonte das Stadtoberhaupt: „Wir schüren aber auch nicht Ängste und Hass. Wir wollen vielmehr durch direkte Kontakte und das Kennenlernen der Kulturen in anderen Ländern, aber auch durch das Bewusstsein um unsere Stärken und die Bereitschaft, unsere Werte zu bewahren, dazu beitragen, dass unsere Welt ein wenig besser wird.“

In einer Veranstaltung, in der die junge und mittlere Generation weitgehend fehlte, war es doppelt bedauerlich, dass der Juso-Vorsitzende Philipp Türmer krankheitsbedingt abgesagt hatte. Im Gemeindehaus wurde das Thema des Tages in einer facettenreichen Debatte vertieft und aus dem Publikum auch die Frage erhoben, ob es nicht auch „Grenzen im Miteinander reden“ gebe. Schneider stimmte dem zu, etwa mit dem Hinweis, dass er in die „Politiker-Bibel“ die AfD nicht aufgenommen habe: „Weil Verhalten und Programm das Gegenteil von dem sind, was ich als Botschaft Jesu verstehe.“ So schloss er: „Ja, wir müssen Grenzen setzen, aber auch offenbleiben fürs Gespräch.“