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„Wir müssen weg vom Denken in Fällen“

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Corona lässt bestehende Defizite in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens deutlich hervortreten. Das gilt gerade für das Gesundheitswesen: Die Pandemie hat seine Krisenanfälligkeit und strukturellen Schwächen sichtbar werden lassen, Wie lautet die Diagnose, wie könnte die Therapie aussehen? Wir sprachen mit Professor Jörg Martin, dem Chef der Regionalen Kliniken-Holding.

Kreis Ludwigsburg. Herr Martin, die ganze Dramatik des Pflegenotstands in den Kliniken ist vielen wohl erst durch den Rückgang der Intensivbetten inmitten der Pandemie bewusst geworden. Ist der Eindruck richtig, dass dieser eklatante Mangel an Pflegekräften auch für die Häuser noch nie so schmerzhaft fühlbar war?

Jörg Martin: Das ist vollkommen richtig. Zum ohnehin seit Jahren bestehenden Personalmangel kam durch Corona hinzu, dass viele Pflegekräfte dem Beruf – und nicht etwa dem einzelnen Krankenhaus – den Rücken gekehrt haben. Das merken wir derzeit brutal, insbesondere im Spezialbereich der Intensivmedizin. Der ist immer schon das Nadelöhr einer jeden Klinik gewesen, denn die Intensivstationen sind auch ohne Corona voll. Das ist eines der großen Zukunftsprobleme der Krankenhäuser. Dem kann man auch nicht durch Verordnung von Personaluntergrenzen entgegenwirken, …

… die festschreiben, um wie viele Patienten sich eine Pflegekraft maximal kümmern darf, um den Ansprüchen an ihren Job noch gerecht werden zu können.

Ja. Beispielsweise sind in einer orthopädischen Abteilung zehn Patienten pro Pflegekraft zulässig, auf einer Intensivstation zwei pro Pflegekraft. Und zwar pro examinierter Pflegekraft. Wir müssen für die Zukunft aber dazu kommen, dass wir „mixed Teams“ aus Pflegekräften und Hilfskräften mit unterschiedlicher Qualifizierung bilden. Zu denen können und sollen beispielsweise auch akademisch ausgebildete Pflegekräfte gehören. Der Koalitionsvertrag will die Akademisierung der Pflege, die der Wissenschaftsrat ja schon lange fordert, jetzt einführen. Die Pflegekräfte müssen dann aber auch weitestgehend von allen Tätigkeiten entlastet werden, die weg vom Patienten führen, und sich schwerpunktmäßig um die Patienten kümmern können.

Die RKH bildet Pflegepersonal gemeinsam mit einer österreichischen Hochschule ja bereits akademisch aus. Mit welchem Erfolg?

Die Nachfrage ist nach wie vor sehr groß. Die Kurse sind gut belegt. Wir haben jetzt sogar schon einen Doktoranden. Der Schwerpunkt liegt auf einem berufsbegleitenden und einem ausbildungsintegrierten Bachelor-Studium. Ausbildungsintegriert heißt: Sie haben die klassische dreijährige Lehrzeit, und wenn Sie noch ein Jahr draufsetzen, haben Sie auch den Bachelor dazu. Wir bieten beides an und können nur dafür werben.

Nun macht ein akademischer Abschluss den Beruf an sich noch nicht attraktiver.

Er eröffnet aber neue Karrierechancen. Erstens am Bett, wo Sie dann für die komplexen, schwierig zu steuernden Fälle zuständig sind. Und zweitens, weil Sie in der Hierarchie deutlich schneller aufsteigen können.

Ihre Kollegen in Landshut bieten auch eine vierjährige Halbtagsausbildung an, um so die Vereinbarkeit von Beruf und Familie schon in der Ausbildung zu gewährleisten.

Wir bieten bereits seit mehreren Jahren eine Teilzeitausbildung mit 75 Prozent, die insbesondere von Quereinsteigerinnen nach einer Babypause in Anspruch genommen wird. Nach dieser vierjährigen Ausbildung zur Pflegefachfrau/Pflegefachmann ist dann das weiterführende Pflegestudium bei uns möglich. Auch eine Halbtagsausbildung wollen wir in Zukunft anbieten. Es ist ein Zeichen der Zeit. Die Lebensplanung der jungen Leute hat sich verändert, so dass wir das durchaus anbieten sollten.

Nochmals: Neue Ausbildungsmodelle bedeuten nicht, dass damit automatisch auch der Beruf wieder attraktiver wird.

Die Pflege ist ein toller, ein erfüllender Beruf. Der Druck, unter dem wir derzeit stehen, ist aber auf die Dauer nicht durchzuhalten. Es müssen also nicht nur neue Karrierechancen geschaffen werden. Wir brauchen auch verlässliche Dienstpläne, die wir ohne „mixed Teams“ nicht hinbekommen werden, und eine adäquate Vergütung. Wir benötigen einen gesellschaftlichen Konsens wie in der Schweiz, der besagt, dass wir die sozialen Berufe – nicht nur die Pflegekräfte, sondern etwa auch Erzieherinnen und Sozialarbeiter – angemessen bezahlen.

Wenn Sie beschreiben, wie die Kliniken zukunftsfest werden können, nennen Sie stets zwei Stichworte: Ambulantisierung und Digitalisierung. Warum sollen oder müssen Krankenhäuser mehr ambulante und weniger stationäre Leistungen erbringen?

Wenn Sie vor zehn Jahren einen Leistenbruch hatten und operiert wurden, lagen Sie eine Woche im Krankenhaus. Heute liegen Sie allenfalls noch ein, zwei Tage. In den meisten Fällen erfolgt der Eingriff sogar ambulant, weil sich die Operationstechniken rasant entwickelt haben. Ein Teil der Krankenhausleistungen wird dadurch aus dem stationären Bereich herausgenommen und ambulant erbracht werden. Der neue Katalog für ambulantes Operieren wird das auch gesetzlich festlegen. Dazu müssen wir die nötigen Strukturen entwickeln und aufbauen – in Kooperation mit unseren niedergelassenen Kollegen und unseren eigenen, klinischen Möglichkeiten. Auch das steht übrigens im neuen Koalitionsvertrag, der neue Vergütungsformen für Krankenhäuser für ambulante Leistungen vorsieht.

Da geraten Sie doch zwangsläufig in Konflikt mit den niedergelassenen Ärzten, die ja schon jetzt nicht glücklich über die Medizinischen Versorgungszentren auch der RKH sind. Warum sollten die Ihnen ambulante Leistungen abtreten wollen?

Weil wir für ambulantes Operieren Voraussetzungen bieten, die in den meisten Praxen nicht vorhanden sein können. Wo niedergelassene Kollegen selbst diese Möglichkeit haben, nutzen sie die ja schon jetzt. Insofern kann man sehr gut zueinander kommen und ein System entwickeln, das der Bevölkerung die bestmögliche, Sektoren übergreifende Versorgung bietet.

Gleichwohl ist bei einem größeren ambulanten Angebot der Kliniken doch ein verschärfter Konkurrenzkampf um die Patienten zu erwarten.

Wir wollen die Patienten, die wir ambulant behandeln, ja schnell wieder in die Obhut der niedergelassenen Ärzte zurückgeben. Wenn der Leistenbruch operiert ist, wird der Patient wieder von seinem niedergelassenen Arzt behandelt.

Sie haben vom Fortschritt der Medizintechnik gesprochen, der diese Ambulantisierung vorantreibt. Damit sind wir beim Stichwort Digitalisierung, die auch die Medizin auf breiter Front erfasst – vom minimalinvasiven Operieren über die Verwaltung von Patientendaten bis hin zum Drei-D-Druck orthopädischer Prothesen in Markgröningen. Was ist da in absehbarer Zeit zu erwarten?

Wir entwickeln im Moment eine Patienten-App. Das ist ein wichtiges neues Werkzeug. Wir merken, dass die Patienten zunehmend selbstbestimmt sind und mit sehr vielen Informationen zu uns kommen, die sie im Internet gefunden haben. Teilweise sind diese Informationen richtig, teilweise müssen wir sie korrigieren. Wenn etwa jemand zu einer Hüftoperation kommt, dann wissen wir, dass die Rekonvaleszenz kürzer sein wird, wenn der Betroffene schon vorher trainiert. Das können wir ihm mit einer solchen App mit Hilfe eines abgestimmten Trainingsprogramms ermöglichen. Wir können auch auf Vorsorgeuntersuchungen hinweisen – ob bei uns oder bei anderen, diese Entscheidung obliegt dem Patienten. Auch das Thema Telemedizin spielt eine zunehmende Rolle. Wenn wir einen Patienten einmal gesehen haben, kann er sich beim nächsten Mal unter Umständen auch telemedizinisch vorstellen. Auch unsere Lotsenfunktion wird immer wichtiger. Wenn ein Patient uns seine Beschwerden digital mitteilt, können wir ihn gezielt steuern – und ihm etwa einen Termin bei einer kooperierenden Praxis beschaffen, ihm einen stationären Termin geben oder ihn in die Notaufnahme bestellen.

Das hört sich alles sehr patientenfreundlich an. Aber: Die direkte Begegnung von Patient und Arzt wird seltener, die Entfernung zwischen Arzt und Patient wächst. Erhält so die alte Kritik an der „Gerätemedizin“, dass sie den Patienten vom Menschen zum „Fall“, zur rein ökonomischen Größe schrumpft, nicht neue Aktualität?

Ganz im Gegenteil. Mit Genanalytik, Gendiagnostik und künstlicher Intelligenz wird eine personalisierte Medizin entstehen. Wenn wir auf diesen Zug nicht aufspringen, sind wir abgehängt. Die Aufgabe des Arztes wird es dabei sein, die Schnittstelle zwischen künstlicher Intelligenz und dem Patienten zu bilden, die Ergebnisse zu validieren, dem Patienten die Diagnose zu erklären und die Therapien mit ihm festzulegen. Nehmen wir das Beispiel Röntgenbilder: Eine Lungenaufnahme etwa eignet sich ideal für die Beurteilung durch künstliche Intelligenz. Der Arzt muss diese Ergebnisse aber noch bewerten und die weitere Therapie mit dem Patienten verabreden.

Was die Entfernung zwischen Patient und Krankenhaus ebenfalls zu vergrößern droht, ist die Konzentration der Versorgung in großen Kliniken, verbunden mit der Schließung kleiner Häuser und dem Rückzug aus der Fläche. Ich denke natürlich an die Schließung der Häuser in Vaihingen und Marbach – wobei beide Standorte erhalten bleiben. Wie geht es weiter?

Zum Konzentrationsprozess trägt wesentlich die vorgegebenen Mindestmengen an Operationen in verschiedenen Bereichen bei. Ich bin ein Freund dieser Mindestmengen, denn wenn man etwas häufig macht, macht man es besser. Wir haben im Landkreis Ludwigsburg die Struktur jetzt so geschaffen, wie wir sie für ideal halten. Wir haben 1500 Akutbetten für 540 000 Einwohner. Dazu kommen 200 Betten in einer Spezialklinik, der Orthopädischen Klinik Markgröningen. In Marbach wollen wir bekanntlich einen Gesundheitscampus entwickeln, genauer: einen Ausbildungscampus im Verbund mit niedergelassenen Praxen, die telemedizinisch an uns angebunden sein werden. In Vaihingen ist eines der größten und modernsten medizinischen Simulationszentren in Deutschland entstanden. Das Krankenhaus Bietigheim-Vaihingen bietet neben einer Grund- und Regelversorgung Spezialitäten wie die Geriatrie, ein Adipositaszentrum, eine Diabetologie und Plastische Chirurgie. Das Klinikum Ludwigsburg, das nahezu die Versorgungsstufe der Maximalversorgung erfüllt, ist ein überregionales Traumazentrum, hat ein Gefäßzentrum, ein Level-1-Perinatalzentrum, eine Stroke-Unit, eine hochqualifizierte Kardiologie, ein neurochirurgisches Zentrum und ein onkologisches Zentrum.

Was Corona auch deutlich macht: Viele Krankenhäuser sind chronisch unterfinanziert. Das betrifft gerade die kommunalen Kliniken, die sich kein Rosinenpicken herausnehmen können und auch Eingriffe vornehmen, die sich finanziell nicht lohnen. Auch die RKH-Kliniken im Kreis weisen für dieses und nächstes Jahr wegen Corona ein happiges Defizit aus. Können wir die jetzige Krankenhausfinanzierung durch Fallpauschalen und „Case Mix“ noch durchhalten? Oder müssen wir, sofern wir unsere Kliniken als Teil der Daseinsvorsorge erhalten wollen, nicht zu einer ganz anderen Finanzierung kommen – etwa durch Steuermittel?

Andere Länder haben das durchaus erfolgreich gemacht. Dänemark zum Beispiel hat so eine enorme Strukturbereinigung vorgenommen. Der Koalitionsvertrag sieht übrigens auch vor, zumindest darüber nachzudenken, Häusern wie Ludwigsburg und Bietigheim, mit Vorhaltepauschalen auszustatten. Die Vorhaltekosten – die wir haben, weil wir uns für Eventualitäten bereithalten – machen ja einen großen Teil unserer Gesamtkosten aus. Natürlich muss man überdies über ganz neue Vergütungsmodelle nachdenken. Der Koalitionsvertrag ermöglicht zum Beispiel die Diskussion über Regionalbudgets, die ich seit längerem befürworte. Dabei bekämen wir für jeden Einwohner des Landkreises, egal ob krank oder gesund, einen Betrag X. Dann muss ich bestrebt sein, dass möglichst viele gesund bleiben. Ich stecke also möglichst viele Ressourcen in die Prävention. Wenn jemand doch krank wird, versuche ich, ihn ambulant zu behandeln, weil das kostengünstiger ist als seine stationäre Aufnahme. Wird jemand so krank, dass er stationär behandelt werden muss, müssen wir so gut sein, dass dieser Patient auch wirklich zu uns kommt und nicht in ein anderes Haus geht, das wir sonst aus unserem Budget – das wir ja auch für diesen Einwohner erhalten haben – bezahlen müssten. Ein solches Regionalbudget würde also die Anreizsysteme vollkommen verändern. Derzeit ist Prävention für uns ja noch geschäftsschädigend: Wir verdienen nicht mit gesunden, sondern nur mit kranken Menschen Geld.

Sie haben schon mehrfach den Koalitionsvertrag angesprochen. Erwarten Sie sich von der neuen Regierung auch neue Chancen für die Krankenhäuser?

Durchaus. Der Koalitionsvertrag bietet gute Ansätze. Natürlich müssen im Gesundheitswesen immer dicke Bretter gebohrt werden.

Wenn wir kurz rekapitulieren: Pflegenotstand, Digitalisierung, neue ambulante Angebote, das Krankenhaus als Lotse, eine neue Finanzierung – was ist aus Ihrer Sicht das dickste Brett?

Am längsten wird es sicher dauern, eine sinnvolle und auskömmliche Finanzierung für Krankenhäuser zu finden, die die richtigen Anreize setzt. Darüber hinaus ist eine enge Kooperation mit den niedergelassenen Ärzten notwendig, um die Bevölkerung mit einer ganzheitlichen, Sektoren übergreifenden Gesundheitsversorgung optimal zu versorgen. Wir müssen weg vom Denken in Fällen und hin zu einem Präventions- und Gesundheitsdenken kommen. Deshalb haben wir in Bietigheim voriges Jahr schon ein Präventionszentrum eröffnet. Wir möchten aber auch niederschwellige Präventionsprogramme anbieten – etwa zu Ernährung, Raucherentwöhnung oder Bewegung – und diese mit Digitalisierung verbinden.