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Ausbildung
Außerhalb der Komfortzone

Marcel Frank in der Erich-Bracher-Schule in Pattonville vor einer Ausstellung, in der es um das Erasmus-Programm für Auszubildende geht. Auf der Stellwand rechts hängen Fotos aus Dublin, wo der Murrer vier Wochen lang in einer Spedition arbeitete. Fo
Marcel Frank in der Erich-Bracher-Schule in Pattonville vor einer Ausstellung, in der es um das Erasmus-Programm für Auszubildende geht. Auf der Stellwand rechts hängen Fotos aus Dublin, wo der Murrer vier Wochen lang in einer Spedition arbeitete. Foto: Holm Wolschendorf
Erasmus-Programm ermöglicht Auslandsaufenthalte für Lehrlinge – Betriebe profitieren davon

Kornwestheim/Ludwigsburg. Marcel Frank erinnert sich an die Gastfreundschaft und die Offenheit, mit der die Iren ihm, dem Fremden aus Deutschland, begegnet sind; Frank denkt zurück an seine Gastfamilie – Mutter, Tochter, Sohn –, an den schwer zu verstehenden irischen Slang, an die täglichen, 90 Minuten langen Busfahrten vom Haus seiner Gastfamilie zum Betrieb, in dem sein Arbeitstag deutlich später begann als in Deutschland. Frank erinnert sich an viele Wochenendausflüge und an die Arbeiten, die er in der Firma zu erledigen hatte – Rechnungen bearbeiten, Transportkosten ausrechnen zum Beispiel. Und er denkt an irische Unternehmenskultur – die, wie er findet, nicht ganz so strikt auf Effizienz, Struktur und Organisation ausgerichtet ist wie Abläufe in deutschen Betrieben.

Frank hat diese Erfahrungen sammeln können, weil er von 8. September bis 5. Oktober ein von der Europäischen Union gefördertes Auslandspraktikum in der irischen Hauptstadt Dublin absolvierte. Das Programm „Erasmus+“ ermöglicht auch Auszubildenden berufliche Aufenthalte im europäischen Ausland.

Der 22-Jährige aus Murr lernt Kaufmann im Groß- und Außenhandel, er ist im dritten Lehrjahr, auf Mai 2020 ist die Abschlussprüfung terminiert. Seine Ausbildung absolviert Frank am Ludwigsburger Standort der Stuttgarter Unternehmensgruppe Winkler und an der Erich-Bracher-Schule in Pattonville. Dort, in der Theorie, lernt der kaufmännische Azubi, wie ein Betrieb zu führen und organisieren ist – von der Buchhaltung über Controlling bis zur Beschaffung und zum Absatz von Produkten.

Seit 2014 bietet die Berufsschule Lehrlingen die Möglichkeit, für mindestens zwei Wochen und maximal einige Monate im Ausland zu arbeiten und zu leben. Pro Jahr reisen 20 bis 25 Erich-Bracher-Berufsschüler für ein Praktikum in ein anderes Land – nach Wales, Island, Finnland, Irland und bald in die Provinz Bergamo, die Partnerregion des Landkreises Ludwigsburg. Ohne Hürden ist der Weg in ein anderes Land aber nicht zu gehen: Potenzielle Teilnehmer müssen nicht nur eine Bewerbung schreiben, einen Sprachtest machen und Workshops absolvieren; mitunter lässt auch der Arbeitgeber einen Lehrling nicht ziehen, weil er ihn bei voller Bezahlung freistellen muss und er ihm für Wochen im Betrieb fehlt.

Es gibt aber auch die andere Seite – dass eine Firma den Azubi zur Teilnahme motiviert, ihn quasi sanft in Richtung Ausland schubst, damit der Teilnehmer fernab der Heimat selbstständiger und selbstbewusster wird. „Viele müssen noch lernen, ihre Komfortzone hier, in dieser wohlhabenden Region Stuttgart, zu verlassen“, sagt Eva Huwald, Erasmus-Auslandskoordinatorin an der Erich-Bracher-Schule. Lehrlinge – auch und vor allem solche, die vorher stärker hätten betreut werden müssen – kehrten meist erwachsener aus dem Ausland zurück. Davon profitierten auch die Ausbildungsbetriebe: Lehrlinge seien nicht nur offener gegenüber Neuem, belastbarer und toleranter; sie betrachteten Prozessabläufe auch aus anderen Blickwinkeln und entwickelten neue Strategien, um Probleme im Arbeitsalltag zu lösen. Außerdem würden Azubis sprachgewandter – gerade in der Region Stuttgart agierten viele Betriebe international.

Winkler Fahrzeugteile, der Ausbildungsbetrieb von Marcel Frank, findet laut Betriebsleiter Felix Maier immer schwieriger Nachwuchs. Deshalb müsse ein mittelständisches Unternehmen seinen Lehrlingen etwas bieten, ihnen Möglichkeiten eröffnen – etwa in Form eines Auslandspraktikums. Der Großhändler für Nutzfahrzeug-Ersatzteile und Werkstattbedarf bietet laut dem Standortchef Aus- und Weiterbildungen sowie Seminare an, zu Themen wie Persönlichkeit und Kommunikation. Warum? „Die Mitarbeiter und ihre Qualitäten machen einen großen Teil unseres Erfolgs aus“, antwortet Maier.

Auch der Ludwigsburger Automatisierungsspezialist Jetter beteiligt sich seit 2017 an dem Erasmus-Programm – zwei junge Leute, die sich zu Industriekaufleuten ausbilden lassen, absolvierten seitdem ein Auslandspraktikum. „Jetter legt besonderen Wert auf eine umfassende Ausbildung, die nicht nur reine Inhalte vermittelt, sondern auch die Persönlichkeiten der Lehrlinge stärkt und fördert“, teilt Ausbildungsleiterin Marion Hauser mit. Die Vorteile des Programms lägen für Jetter auf der Hand: „Gut ausgebildete und in ihrer Persönlichkeit geförderte Auszubildende werden zu wichtigen Leistungsträgern, die das Unternehmen weiter voranbringen.“

Auch Lehrer können über das Erasmus-Programm ins Ausland gehen. Eva Huwald etwa war in Island und Finnland. „Für uns ist wichtig, dass wir sehen, wie Azubis in anderen Ländern angelernt werden und wie dort Arbeitsplatz oder Unterricht gestaltet sind.“ Dieser Blick über den eigenen Tellerrand „tut auch uns Lehrern gut“.