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Gewerbesteuer
Das Atomkraft-Ende ist ein historischer Einschnitt für Neckarwestheim

Soll noch bis Mitte April laufen: Block 2 des Atomkraftwerks Neckarwestheim (rechts im Bild). Archivfoto: Alfred Drossel/LKZ
Soll noch bis Mitte April laufen: Block 2 des Atomkraftwerks Neckarwestheim (rechts im Bild). Foto: Alfred Drossel/LKZ
„Ihr strahlt ja alle“ – Witze wie diesen hat der Neckarwestheimer Bürgermeister Jochen Winkler zur Genüge gehört. Die Gemeinde ist Standort eines der letzten Kernkraftwerke in Deutschland. Was der nunmehr verschobene Atomausstieg für den Ort bedeutet, wird bei einem Besuch deutlich.

Neckarwestheim/Kirchheim. Wie Zuckerwattefäden zieht der Dampf aus dem Kühlturm des Atomkraftwerks Neckarwestheim gen Himmel, ehe er immer dichter wird. Kilometerweit ist die wolkige Säule zu sehen – und das durch die verlängerte Laufzeit nun noch eine ganz Weile. Auch wenn das Ende der Atomstromproduktion verschoben ist, bedeutet es schon jetzt für die kleine Gemeinde an der Grenze zum Landkreis Ludwigsburg einen historischen Einschnitt – nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Fünf bis zehn Millionen Euro Gewerbesteuer sprudelten jährlich in die Kasse, sagt Bürgermeister Jochen Winkler. Vorwiegend durch das AKW. Auch das benachbarte Gemmrigheim bekommt das Aus finanziell zu spüren.

Kraftwerksbetreiber hat Vereine gesponsert

Mit dem Geld habe sich die Kommune Neckarwestheim Dinge leisten können, die deutlich über dem Niveau einer Gemeinde mit rund 4200 Einwohnerinnen und Einwohnern liege, räumt der parteilose Politiker ein. So seien etwa die Kindergärten toll ausgestattet. Es gebe die Reblandhalle als Kulturzentrum und Veranstaltungslocation sowie 120 Hotelbetten. Der Kraftwerksbetreiber habe die Vereine gesponsert. „Jeder hat was bekommen: Die einen eine Kegelbahn, die anderen eine Schießbahn.“

In den 1980er Jahren kaufte die Gemeinde sogar ein Schloss. Hinzu kam ein 27-Loch-Golfplatz. Mit zehn Millionen D-Mark wurde zudem eine Bürgerstiftung gegründet. Die bezuschusst Karten, mit denen Neckarwestheimer umliegende Freibäder besuchen können. Das nutze sie viel, berichtet eine Frau, die gerade aus einem Haus der Kirchengemeinde kommt. Seit 28 Jahren lebe sie in Neckarwestheim. Abgeschreckt habe sie das AKW damals nicht. „Wenn was passiert, ist ein größeres Gebiet betroffen“, sagt die 58-Jährige. Nur als Atommüll hier zwischengelagert werden sollte, da habe sie mitdemonstriert.

Nächsten Schritte könnten wehtun

Damals sei die Stimmung 50:50 gewesen, sagt Winkler. „Wir hatten das Versprechen: Ihr tragt die Last der Produktion, andere die der Endlagerung. Das wurde gebrochen.“ Das Thema werde noch viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister nach ihm beschäftigen. Seit er 2016 ins Amt kam, gehe es darum, den Haushalt auf die Zeit nach dem AKW vorzubereiten. „Wir haben die Luft rausgelassen.“ Zuschüsse für Abwassergebühren etwa wurden gestrichen. Die Rücklage sei gut, aber die nächsten Schritte könnten wehtun.

An Silvester geht der Reaktor vom Netz

Block 1 des AKW ging 1976 in Betrieb. Er zählte 2011 zu den ersten, die nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima abgeschaltet wurden. Block 2 ging 1989 ans Netz. Eigentlich hätte er als einer der letzten drei Meiler in Deutschland Silvester abgeschaltet werden sollen. Doch infolge der Energiekrise hat die Bundesregierung die Laufzeit bis Mitte April verlängert, um die Stromversorgung zu sichern. Am Silvestertag, 31. Dezember 2023, soll der Reaktor vom Netz gehen, um Brennelemente neu zusammenzusetzen. Zwei bis drei Wochen dauert das nach Angaben des Betreibers EnBW. Dann soll der Meiler bis Mitte April bis zu 1,7 Milliarden Kilowattstunden Strom produzieren. Ohne die neue Konfiguration der Brennelemente wäre nur etwa ein Drittel dessen möglich, erklärt Jörg Michels, Chef der Kernkraftsparte. Viele der Beschäftigten sollen in den kommenden zehn bis 15 Jahren beim Rückbau mitwirken. Weil nun alles verschoben werden muss, mit anderen Firmen ausgemachte Zeitfenster nicht eingehalten werden können, wird sich auch der Rückbau verzögern. Vielleicht um mehr als ein Jahr.

Atomkraftgegner im Umland

Atomkraftgegner sucht man in Neckarwestheim vergebens. Die kämen eher aus dem Umland, erläutert Franz Wagner vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar. „Wir wissen, dass auch einzelne Menschen aus Neckarwestheim an unseren Demos teilnehmen, und wir haben für manche Aktivitäten auch konkrete Unterstützung im Hintergrund durch Menschen aus Neckarwestheim.“ Aber nicht öffentlich sichtbar. Wer in den Standortgemeinden lebt, habe sich im Allgemeinen mit der Atomkraft mehr oder weniger arrangiert. Anders sehe das in Nachbarorten aus.

In Kirchheim etwa. Dort lebt Rolf Riecker seit 68 Jahren – länger also, als es das AKW gibt. Er spricht von einer „Todeszone“. „Wir würden nicht rauskommen, wenn der Ernstfall eintritt“, sagt er. „Wenn Sie hier wohnen und wissen, es kann jederzeit was sein, ist das schon ein mulmiges Gefühl.“ Viele Menschen verdrängten die Gefahr. Wegen der möglichen radioaktiven Belastung war das AKW Rathauschef Winkler zufolge von Anfang an ein Problem für die Landwirtschaft. „Marketingtechnisch ist das auf jeden Fall ein Nachteil.“ Wein aus der Region werde nicht mit dem Bezug zu Neckarwestheim verkauft. Auch touristisch wurde das Kernkraftwerk lange Zeit ausgeblendet. Heute versucht die Gemeinde, Umwelt und Atomkraft zusammenzubringen: Wenn sie 2023 ihr 900-jähriges Bestehen feiert, ist eine der Nullen im Logo eine Blüte samt Schmetterling. Die andere ein Atomsymbol. „Wir haben davon profitiert und stehen dazu“, sagt Winkler. „Aber wir wollen auch das Image als Atomdorf abschütteln.“