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Prozessauftakt
„Der wollte, dass ich sterbe“

Ein 28-Jähriger muss sich nach einem Angriff mit einer Schere auf einen jungen Mann am Bietigheimer Bahnhof wegen versuchten Totschlags verantworten. Aus seiner Sicht war es aber Notwehr.

Bietigheim-Bissingen/Heilbronn. Was geschah wirklich an jenem Donnerstagabend Mitte Oktober zunächst in einer S.5 von Ludwigsburg nach Bietigheim, dann vor dem dortigen Bahnhofsgebäude? Die Folgen sind unumstritten: Ein junger Mann wird von einem anderen mit einer Schere verletzt, fünf Stiche am Oberkörper und in den Arm listet die Anklage auf. Bewusst habe der 28-Jährige in Kauf genommen, dem 22-Jährigen dabei „erhebliche Verletzungen zufügen zu können, die sogar mit dem Tod hätten enden können“. Versuchter Totschlag sei das, zudem gefährliche Körperverletzung, so der Staatsanwalt zum Prozessauftakt.

Doch aus Sicht des Angeklagten war nicht er es, von dem die Aggressionen ausgingen, sondern sein späteres Opfer. Der junge Mann und seine Begleiterin hätten ihn in der Bahn ausgelacht, das habe er als abwertend empfunden, verlas sein Verteidiger eine Erklärung. Nachdem er später das Gebäude verlassen habe, sei er von dem 22-Jährigen angesprochen und umgehend geschlagen worden. Mit den Händen habe er versucht, abzuwehren, um irgendwann zu einer kleinen Schere zu greifen, mit der er zuvor einem Bekannten die Haare geschnitten hatte. Doch selbst dann habe der Jüngere nicht aufgehört und ihm „heftige und fortwährende Schläge“ verpasst, hieß es in der Erklärung weiter.

Doch schon ein Teil der Schilderung passt für den Vorsitzenden Richter nicht zusammen mit dem, was in den Akten steht, sagte er. Denn zumindest aus der S-Bahn gibt es ein Video, zudem machte der Angeklagte offenbar bei der Polizei andere Angaben. „Und sicher gibt es auch eine Erklärung dafür, dass Sie sich den Vollbart abrasiert haben“, sagte Roland Kleinschroth ironisch über die Veränderung.

Und auch das spätere Opfer schilderte die Abläufe anders. Er war mit einer Klassenkameradin nach der Abendschule auf dem Nachhauseweg, als ihm der Angeklagte schon kurz nach dem Einstieg auffiel, weil er laut gesprochen habe – „man hat gemerkt, dass er nicht nüchtern war“. Und dann, als er in sein Handy etwas wie „Du musst deinem Mann treu sein“ sagte, ebenso, dass er Deutschland scheiße finde und weg wolle. Sie fingen zu kichern an – mehr aber nicht, und das hätten sie auch gestoppt, als der Angeklagte ihn beschimpfte und sagte, er solle ruhig sein.

Kurz vor dem Ausgang des Bahnhofsgebäudes habe der Angeklagte seine Begleiterin bespuckt, ehe er wenige Meter weiter sagte „Hey du Arschloch, dreh‘ dich um!“ Beide Männer gingen dann wohl aufeinander zu, zogen sich gegenseitig am Oberteil – „und dann fing er sofort an mich ins Gesicht zu schlagen“, so der 22-Jährige.

Wann sein Gegenüber die Schere zog, weiß er nicht. Gespürt hat er die Stiche zu diesem Zeitpunkt wegen des Adrenalins, wie er sagte, auch nicht. Erst, als der 28-Jährige abließ und er das Blut entdeckte – und auch heute noch. Denn der tiefe, lange Schnitt am linken Oberarm habe nur knapp einen Nerv verfehlt, noch immer habe er dort ein Taubheitsgefühl, das vielleicht nie wieder verschwinde. „Ich bin kein Schlägertyp“, sagte er auf Vorhalt des Richters. „Der wollte, dass ich sterbe, der wollte mich fertigmachen“, sagte er aus.

Welche Rolle Rauschmittel spielten, muss noch geklärt werden. Konsumiert hat der Angeklagte nach eigenen Angaben zwar „nicht viel“, doch gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigten nannte er dann Mengen von täglich einer Flasche Whiskey und Co. Auch einige übrige Angaben seien für ihn nicht schlüssig, sagte der Arzt während seines Berichts über den Lebenslauf des Mannes, der im Irak bei einer Großmutter und dann bei einem Onkel aufwuchs, der ihn öfters schlug. 2016 kam er nach Deutschland, zuletzt wohnte er in Sachsenheim und bezog Unterstützung vom Jobcenter, weil er seinen Job als Friseur wegen des zu geringen Gehalts gekündigt hatte. Ende Oktober kam er in Haft, kurz darauf versuchte er, sich mit einem Geschirrtuch zu strangulieren.