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Stuttgart/Asperg
„Noch so jung, so voller Leben“: Die Eltern erzählen über ihre Kinder, die bei einem Raserunfall 2019 in Stuttgart ums Leben kamen

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Am 6. März 2019 sterben vor dem Stuttgarter Ufa-Palast zwei junge Menschen. Schuld daran ist ein Raser, der mit seinem Jaguar in einen Kleinwagen krachte. Wer waren Jaqueline Blochel und Riccardo Kranen, die beiden Opfer des Unfalls, die zuletzt in Asperg wohnten? Die Eltern erzählen von ihren Kindern und ihrem Leid.

Am Ende des Jahres 2014 treffen sich im Düsseldorfer Ufa-Palast zwei junge Menschen, die gern reisen, andere Kulturen kennenlernen und die Welt sehen wollen. Jaqueline Blochel und Riccardo Kranen jobben in dem Kino, die beiden werden schnell ein Paar – und dann gleich wieder getrennt. Jaqueline geht im Januar 2015 für ein Jahr in die USA, der Abschied fällt ihr nicht leicht, denn sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt. Jaqueline arbeitet in den USA bei einer Familie als Au-pair und reist die letzten vier Wochen allein durch das riesige Land. Ihre Beziehung zu Riccardo zerbricht, die räumliche Distanz ist zu groß. 2016 kehrt die junge Frau nach Deutschland zurück, sie nimmt ihren Job im Ufa-Palast wieder auf und beginnt ein Management-Studium mit internationaler Ausrichtung in Bochum. Sie trifft Riccardo wieder, im Herbst 2017 werden die beiden erneut und diesmal endgültig ein Paar.

Auch Riccardo zieht es ständig ins Ausland. Wenn er auf seinen Reisen mal wieder kein Geld mehr hat, schickt er seinen Eltern eine Nachricht, in der steht: „Wenn Ihr Euren Sohn wiedersehen wollt, dann sendet ihm 300 Dollar mit Western Union.“ Nach dem Abi und vor seinem Tourismus-Management-Studium tourt er durch Südamerika. Er reist allein von Chile nach Kolumbien, ohne Auto, nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln und auf eigenen Füßen. Seine Eltern machen sich Sorgen, dass er in diesen sechs Monaten überfallen werden könnte. „Aber nichts ist damals passiert“, sagt Riccardos Vater heute. „Und dann passiert das in Stuttgart.“

Der Unfall: Aschermittwoch, 6. März 2019: Jaqueline und Riccardo, die vier Monate vorher nach Stuttgart und kurz darauf nach Asperg gezogen waren, verlassen am späten Abend den Ufa-Palast im Norden der Landeshauptstadt. Riccardo arbeitet in dem Kino als Theaterleiter, die Stelle war ihm angeboten worden, weil sie im Düsseldorfer Ufa-Palast so zufrieden mit ihm gewesen waren. Seine Eltern Gloria und Hermann Kranen hatten ihn gefragt: Warum Stuttgart, warum so weit weg? Riccardo hatte geantwortet: Ich bin 25, wenn ich solch ein Angebot bekomme, muss ich es annehmen. Auch für Jaquelines Eltern, Carmen und Olaf Blochel, war die Nachricht vom Wegzug ihres einzigen Kindes vom Rheinland ins weit entfernte Baden-Württemberg ein Schock. Niemand hatte die beiden jungen Leute umstimmen können. Riccardo nahm die Stelle an, unter einer Bedingung: Jaqueline sollte auch in dem Kino jobben können, neben ihrem Studium, das sie in Stuttgart weiterführen wollte. Eine Fernbeziehung wollten die beiden nicht führen. Das Paar zog vom Rheinland in den Südwesten.

Am 6. März 2019, gegen 23.30 Uhr, sitzen Jaqueline und Riccardo vor dem Stuttgarter Ufa-Palast in ihrem Kleinwagen. Sie warten an der Ausfahrt, um auf die Rosensteinstraße zu fahren, als ein 20-Jähriger in einem gemieteten Jaguar mit mehr als 160 Stundenkilometern durch das Nordbahnhofviertel rast. Er verliert die Kontrolle über den Wagen und kracht in den Citroën. Dessen Insassen, Jaqueline und Riccardo, sind sofort tot. Der Fahrer wird vom Stuttgarter Landgericht später zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt.

Am 4. April 2019 kommen Hunderte Menschen zu der Trauerfeier in Düsseldorf. Sie verabschieden Jaqueline und Riccardo, eine 22-Jährige und einen 25-Jährigen, die in diesem Frühjahr gern weiter ihre Zwei-Etagen-Wohnung mit Dachterrasse in Asperg eingerichtet hätten. Jetzt liegt ihre Asche in einem gemeinsamen Urnengrab auf dem Gerresheimer Waldfriedhof.

Jaqueline: Ein lebhaftes, quirliges Kind ohne Berührungsängste – so erinnern sich Carmen und Olaf Blochel an ihre Tochter in deren jungen Jahren. Die Eltern erzählen, was für ein Mensch Jaqueline war – eine junge Frau, „die immer etwas zu erzählen hatte“, viel redete, viele Ideen hatte, viel las. „Und wenn sie nicht geredet hat, hat sie gerne gesungen, das fing oft schon morgens nach dem Aufstehen an.“ Jaqueline machte in ihrem kurzen Leben viel Sport – Karate, Geräteturnen, Fußball in einer Mädchenmannschaft, als Kleinkind fuhr sie Einrad. „Schwimmen konnte sie auch sehr gut, aber ins Meer ist sie nicht gerne gegangen, weil sie Angst vor Fischen hatte.“

Die junge Frau machte 2014 ihr Fachabitur in der Europaklasse eines Berufskollegs, sie absolvierte Praktika in Kindergärten, um sich auf ihre Au-pair-Zeit in den USA vorzubereiten, nebenbei jobbte sie etwa im Einzelhandel und im Kino. Sie liebte Musik und besuchte Konzerte, bei „Rock am Ring“ war sie zwei Mal. Sie war Fußballfan und Anhängerin von Fortuna Düsseldorf, wie Riccardo auch. Ihr Freund kochte gern, sie backte gern. Aber danach die Küche aufräumen und spülen, das machte sie nicht gern, „da gab es auch schon mal Streit“, erzählt ihre Mutter. Jaqueline fuhr gern Auto; ihren letzten Wagen, ein Opel Astra Cabrio in Lila, liebte sie. Sie ließ ihn bei ihrem letzten Heimatbesuch im Februar 2019 bei ihren Eltern, damit ihr Vater den Opel durch den Tüv bringt. Das schaffte der Wagen, „leider hat Jaqui das nie erfahren“, sagt ihre Mutter.

2013 in Kroatien, im letzten gemeinsamen Urlaub mit ihren Eltern, überwand Jaqueline ihre Angst und machte zusammen mit ihrem Vater einen Bungee-Sprung. „Und ich stand da an diesem Sommertag auf der Brücke und hatte Angst um mein Kind und um meinen Mann“, erinnert sich Carmen Blochel. „Als Jaqui dann ihren Führerschein gemacht hat und Auto fahren durfte, war es für mich sehr schwer zu glauben, dass ich sie gefühlt vor kurzem noch im Kinderwagen geschoben habe und jetzt neben einer erwachsenen Tochter im Auto saß und sie fuhr.“

Riccardo: Er liebte Fußball, das Kochen und den Karneval – das erzählt Hermann Kranen über seinen Sohn Riccardo. Der Vater blickt im Gespräch zurück auf Jahre, in denen Riccardo Pfadfinder-Gruppen geleitet hat und er Jugendfußballtrainer beim SC Düsseldorf-West war. Der Fasching in Stuttgart – dort erlebte er die „fünfte Jahreszeit“ erstmals im deutschen Südwesten und zum letzten Mal in seinem Leben – enttäuschte ihn, das kannte er aus seiner rheinischen Heimat ganz anders, intensiver. Er sagte, bezogen auf den Fasching im Ländle: Nächstes Jahr machen wir hier mal richtig Stimmung.

Riccardo wohnte bis zu seinem Umzug ins Schwäbische in seinem rheinischen Elternhaus, sein Zimmer ist noch heute so, wie er es verlassen hat. Er belegte Streitschlichter-Kurse, er schrie nie, war hilfsbereit und sagte laut Hermann Kranen oft: „Vater, jeden Tag eine gute Tat.“ Riccardo besuchte häufig Fußballspiele von Fortuna Düsseldorf. Das letzte Mal war er, auf Heimatbesuch, am 23. Februar 2019 im Stadion, zusammen unter anderem mit Jaqueline und deren Vater. An diesem Tag sahen Jaquelines Eltern zum letzten Mal ihre Tochter. Die Kranens verabschiedeten sich zwei Tage später – endgültig, ohne das zu wissen – von ihrem Sohn wie immer mit den Worten, wenn er eine längere Strecke am Steuer vor sich hatte: „Gute Fahrt, pass auf.“

Die Eltern: Wenige Stunden nach dem tödlichen Unfall in Stuttgart klingelt es im Rheinland bei den Eltern der beiden Opfer. Gegen 3.30 Uhr stehen ein Polizist und ein Seelsorger vor der Haustür der Blochels. „Worum geht es denn?“, fragt Vater Olaf. „Sind Sie die Eltern von Jaqueline Blochel?“, fragt der Polizist zurück. „Ich bin dann schon im Flur zusammengebrochen“, erinnert sich Carmen Blochel. Im Wohnzimmer erfahren sie vom Tod ihrer Tochter, später auch, dass Riccardo nicht überlebt hat. „Es ist wie ein Tritt in den Magen, die Welt bleibt stehen, alles ist auf einmal unwirklich“, sagt Jaquelines Mutter. „Nicht zu glauben, dass unsere Kinder tot sind, wir sie nie mehr sehen, nie wieder in die Arme nehmen können. Noch so jung, so voller Leben, Pläne und Ziele. Alles auf einmal weg, einfach so, weil ein Vollidiot ein bisschen Spaß haben wollte.“ Den Unfallverursacher, den Raser, bezeichnet Carmen Blochel als Mörder, es fällt auch das Wort Hass. „Er hat uns das Liebste genommen, er hat unsere Zukunft genommen. Wir werden ihm nie verzeihen.“

„Wir fühlen uns innerlich leer“

Heute, drei Jahre nach dem Unfall, sind die Blochels weiter in psychologischer Betreuung, das Ehepaar hat jetzt eine psychosomatische Reha beantragt. „Wir leiden noch immer unter Schlafstörungen und Alpträumen“, sagt die Mutter. „Wir fühlen uns innerlich leer, da ist keine Freude mehr, kein Sich-auf-etwas-Freuen, wie das früher einmal war. Das ,Kümmern‘ fehlt uns. Wie oft bin ich früher in die Stadt gefahren und habe geguckt, was ich unserer Tochter kaufen kann, womit ich ihr eine Freude machen kann. Jetzt gehe ich nicht mehr gerne bummeln. Mein Mann war seit dem Unfall bei keinem Fortuna-Spiel mehr im Stadion. Jaqueline fehlt so sehr.“

Auch Gloria und Hermann Kranen sind noch immer in Therapie. „Wir kommen damit nicht klar“, sagt der Vater über Riccardos Tod. In der Nacht des Unfalls klingelten Polizisten und Seelsorger gegen 4 Uhr bei den Kranens, „ich dachte, die haben sich in der Hausnummer vertan“. Seit dem Tod des Sohnes lebt das Ehepaar in einer anderen Zeit – der Zeit danach, in der sie sich oft an die Zeit davor erinnern. „Man denkt oft, Riccardo ist gerade auf Reisen, und bald klingelt es und er steht vor der Tür.“ Sieht der Vater auf der Straße ein Auto, das in Farbe und Modell dem von Riccardo gleicht, denkt er: „Da fährt er doch.“ Das hält Hermann Kranen nicht aus; er muss dann sofort abbiegen, damit dieses Auto aus seinem Blickfeld ist. Morgen, zum Jahrestag des Unfalls, sind beide Elternpaare wieder in Stuttgart, an der Stelle, an der ihre Kinder ums Leben kamen. Bei der Anreise wird es Hermann Kranen dann wie bei jedem Besuch in dieser Stadt gehen: „Je näher ich Stuttgart komme, desto schlechter geht es mir.“

Asperger Wohnung der toten Kinder ausräumen müssen

Am 7. März 2019 erst lernten sich die Eltern von Jaqueline und von Riccardo kennen. Zwei Tage später verabschiedeten sie sich von ihren Kindern – auf dem Friedhof an offenen Särgen. „Es gibt nichts Schlimmeres, was Eltern passieren kann“, sagt Carmen Blochel. Die Wohnung in Asperg sahen die Angehörigen erst nach dem Tod von Jaqueline und Riccardo zum ersten Mal. „Alles war aufgeräumt und gebügelt, das Bett gemacht, der Kühlschrank gefüllt“, erinnert sich Hermann Kranen. Dann mussten die Erwachsenen die Wohnung ihrer toten Kinder ausräumen.

Der Ufa-Palast, sagt Carmen Blochel, sei das Schicksal im Leben von Jaqueline und Riccardo gewesen. „Ich weiß nicht, ob wir das Kino lieben oder hassen sollen. Jaqui hat dort ihre große Liebe kennengelernt, aber dann hat es ihnen den Tod gebracht.“