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Integration
Ukraine-Krieg: „Die Hilfsbereitschaft im Kreis Ludwigsburg ist riesig“

Dr. Alexandra Diener, Integrationsbeauftragte des Landkreises Ludwigsburg. Archivfoto: Holm Wolschendorf
Dr. Alexandra Diener, Integrationsbeauftragte des Landkreises Ludwigsburg. Foto: Holm Wolschendorf
Der Krieg in der Ukraine hat bei uns eine Welle der Solidarität und viel Hilfsbereitschaft für geflohene Menschen hervorgerufen. Auch die deutsche Flüchtlingspolitik hat sich geändert. Wir sprachen mit der Integrationsbeauftragten des Landkreises, Dr. Alexandra Diener.
Kreis Ludwigsburg.

Viele Flüchtlinge aus der Ukraine kommen nicht per Zuweisung durch die Bundesländer zu uns, sondern reisen auf privaten Wegen ein. Wissen Sie überhaupt, wie viele Menschen aus der Ukraine schon im Kreis angekommen sind?

Alexandra Diener: Kurz vor Ostern hatten sich bei der Ausländerbehörde rund 2750 Personen gemeldet. Die Zahl der Neuanträge für Leistungen, die bis zum 1. Juni noch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und dann als Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch erfolgen, liegt allerdings darunter. Es haben also nicht alle, die sich angemeldet haben, auch Leistungen beantragt. Der Übergang in die Grundsicherung soll künftig ohne Neuantrag möglich werden.

Handelt es sich auch bei denen, die zu uns in en Kreis kommen, überwiegend um Frauen und Kinder?

Ja. Ich hatte gerade ein Gespräch auch mit den Integrationsbeauftragten der Kommunen. Dort kommen fast ausschließlich Frauen mit Kindern an, ganz selten auch ältere Männer. Außerdem haben wir einige Personen aus Drittstaaten hier, die bisher in der Ukraine gelebt und dort beispielsweise studiert haben. Das sind vor allem Männer. Das sind aber sehr wenige. Deren Status ist rechtlich noch nicht abschließend geklärt.

Asylgründe aufgrund der Situation in ihren Heimatländern haben Studierende ja nicht automatisch…

Ja, aber zu diesem Personenkreis gehören bei uns derzeit auch Leute aus Syrien oder Kamerun. Also aus Ländern, in denen es Asylgründe geben kann.

Aus der Ukraine kommen vor allem Frauen und Kinder zu uns, in den früheren Fluchtwellen aus Afghanistan oder Syrien waren es vorwiegend junge Männer. Die Gründe der Flucht sind sehr ähnlich, auch viele Syrer hätten ohne Putin möglicherweise nicht fliehen müssen. Was unterscheidet die Situation jetzt – außer der Demografie – von 2015/16, müssen Sie andere Angebote machen?

Zunächst einmal ist tatsächlich die Demografie ein wichtiger Unterschied. Es kamen 2015/16 auch Familien in den Kreis, aber dann waren es meistens ganze Familien. Jetzt kommen vor allem „halbe“ Familien hierher. Grundsätzlich haben Frauen mit Kindern und ältere Menschen andere Bedürfnisse im Blick auf die Unterkunft als allein reisende Männer, sie brauchen mehr Platz und die Kinder auch eine andere Umgebung. Im Blick auf die Kinder ist natürlich auch die Integration in die Schule und die Kindergärten sehr wichtig. Das Gesundheitsamt des Landkreises hat für die Kinder deshalb gerade eine Aktion zur Titer-Bestimmung von Masern gestartet, damit sie in Schulen und Kitas aufgenommen werden können (die LKZ berichtete). Dieses Angebot steht auch Geflüchteten aus anderen Ländern offen. Wir haben eine Anfrage aus Affalterbach für Kinder aus Afghanistan, deren Eltern dort als Ortskräfte für Deutschland gearbeitet haben. Die Integration in die Kindergärten wird aber ehrlich gesagt schwierig, weil wir ohnehin einen Mangel an Kitaplätzen und pädagogischen Fachkräften haben. Bei den Schülern haben wir derzeit noch einige Familien, deren Bleibeabsicht nicht hoch ist und deren Kinder vorerst lieber weiter am Online-Unterricht teilnehmen wollen, der ihnen aus der Ukraine angeboten wird. Diese Teilfamilien wollen so schnell wie möglich zurück in die Ukraine und hoffen, dass die Kinder so bei ihrem Unterricht dort wieder einen nahtlosen Anschluss finden. Andere möchte ihre Kinder hier in die Schule schicken und möglicherweise länger bleiben. Sie werden sowohl in die Vorbereitungsklassen als auch in die Regelklassen integriert. Auch die Hilfsbereitschaft von der Studierenden der PH Ludwigsburg, Schülern im Rahmen des Projekts Study4future des Landkreises Nachhilfe in den Kernkompetenzfächern und Sprachförderung zu geben, ist riesig.

Lassen Sie uns auf die Frage der Unterbringung zurückkommen. Die Belegung von Sporthallen wollen Sie offenbar vermeiden?

Aktuell werden uns zum Glück viele leerstehende Wohnungen zur Verfügung gestellt. Einliegerwohnungen etwa oder ähnliches. Das ist auch eine Chance für unseren Wohnungsmarkt, weil so Wohnungen, die bislang trotz aller Wohnungsnot leer stehen, aktiviert werden. Es ist unsere Aufgabe, Wohnungsgebern, die Wohnraum für Geflüchtete zur Verfügung stellen oder Flüchtlinge bei sich aufnehmen, eine langfristige Perspektive zu bieten. Sie üben jetzt an vorderster Front ein Ehrenamt aus, auch wenn sie nicht vor hatten, ein Ehrenamt auszuüben – einfach, indem sie beim Ausfüllen von Anträgen oder bei Behördengängen helfen. Ich sehe uns als Landkreis und die Kommunen in der Pflicht, diese Wohnungsgeber zu begleiten und zu beraten. Sonst laufen wir Gefahr, dass wir spätestens im Sommer viel Wohnraum wieder verlieren und dann vielleicht doch Turnhallen belegen müssen. Das wollen wir unbedingt vermeiden.

Sie haben die unklare Perspektive der meisten Flüchtenden aus der Ukraine angesprochen. Bei den Syrern und Afghanen ist eigentlich klar, dass sie auf absehbare Zeit nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Bei den Ukrainern ist die Perspektive noch völlig offen, sie hängt von der Dauer und vom Ausgang des Krieges, möglicherweise auch von ihrer regionalen Herkunft ab. Wie flexibel können Sie da reagieren – oder müssen Sie die Integrationsangebote einfach auf eine dauerhafte Aufnahme ausrichten?

Tatsächlich kann das Thema Bleibebereitschaft noch nicht abschließend beantwortet werden. Vor allem bei den „halben“ Familien ist die Frage, was mit den zurückgebliebenen Männern wird. Für uns in der Integrationsarbeit sehe ich es als Chance, dass wir uns Konzepte für die Integration von Personen überlegen müssen, die voraussichtlich nur vorübergehend bei uns sind. Das betrifft ja nicht nur die Flüchtlinge aus der Ukraine, sondern beispielsweise auch Saisonarbeitskräfte, die sich länger als drei Monate bei uns aufhalten. Da geht es etwa um die Vermittlung von Grundkenntnissen im Arbeitsrecht und von Alltagssprache mit dem Fokus Sprechen, also unterhalb des Niveaus der Integrationskurse. Wir brauchen auch ein neues Narrativ, um den Integrationswillen von Personen mit geringer Bleibebereitschaft zu steigern. Bisher sagen wir immer: Je besser du dich integrierst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass du hierbleiben kannst. Jetzt haben wir es mit Leuten zu tun, die möglicherweise gar nicht bleiben wollen.

Interessant ist doch, dass sich bei uns etwas geändert hat. Die Wirtschaft erwartet im Blick auf die ukrainischen Flüchtlinge offenbar eine Zuwanderung dringend benötigter Fachkräfte, der Staat bietet ihnen einen viel besseren rechtlichen Status – etwa Freizügigkeit und Arbeitserlaubnis – und mehr finanzielle Unterstützung an als anderen Flüchtlingen…

Der Arbeitsmarkt im Landkreis ist derzeit unglaublich aufnahmefähig. Tatsächlich wurde erstmals die Massenzustrom-Richtlinie in der Europäischen Union aktiviert, die in Deutschland im Aufenthaltsgesetz umgesetzt wird. Demnach können ukrainische Flüchtlinge sofort arbeiten oder ab Juni Grundsicherung bekommen. Das sind andere Voraussetzungen, das muss man einfach sagen. Auch die Integrationskurse stehen allen ukrainischen Flüchtlingen kostenlos offen, andere Schutzsuchende mussten dazu das Asylverfahren durchlaufen. Ob dabei in der Bundesregierung arbeitsmarktrelevante Überlegungen eine Rolle gespielt haben, weiß ich nicht.

Sind diese doppelten Standards kein Problem für Sie? Wie schwer ist es, diese Besserstellung der Ukrainer gegenüber anderen Flüchtlingen rechtfertigen zu müssen? Wir haben es schon angesprochen: Auch die Syrer sind nicht nur Assads, sonder auch Putins Opfer.

Wir dürfen natürlich keine Zwei- oder gar Dreiklassengesellschaft für neu Zugewanderte entstehen lassen. Wir müssen erklären, dass wir uns an rechtliche Vorgaben halten müssen. Das gilt übrigens auch für die Ehrenamtlichen, die eine wichtige Rolle bei der Aufklärung einnehmen. Und wir dürfen alle anderen Zuwanderer nicht aus dem Blick verlieren, weder Flüchtlinge noch Arbeitsmigranten aus anderen Ländern – schon um möglicherweise entstehenden Ressentiments entgegenzuwirken. Es ist mir unglaublich wichtig, als Integrationsbeauftragte für alle da zu sein und für alle Angebote zu schaffen.

Es flüchten derzeit ja nicht nur Ukrainer, sondern auch Zehntausende Russen. Für die gilt dann aber ebenfalls der schlechtere Standard, das Asylverfahren: Ein Russe, der aus Putins Russland flieht, ist ein klassischer Asylbewerber?

Ja. Die Massenzustrom-Richtlinie richtet sich nur an Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, aber nicht an Russen, die aus Russland fliehen.

Wie gut ist denn aus Ihrer Sicht die Integration von Menschen aus Russland bisher gelungen? Wir sehen diese Autocorsos von Putin-Anhängern, die der russischen Propaganda glauben, und wissen, dass der Anteil der AfD-Wähler unter Deutschrussen auffällig hoch ist. Was ist da schiefgegangen?

Ich erlebe hauptsächlich eine überwältigende Hilfsbereitschaft auch der russischsprachigen Community bei uns. Beispielsweise, was die Übersetzungstätigkeiten anbelangt. Ich kann hier unser Bildungsbüro nennen, wo wir russisch- und ukrainisch-sprachige Sprachmittlerinnen und Sprachmittler gesucht haben. Darauf haben sich auch sehr viele Spätaussiedler gemeldet, die helfen, die übersetzen und Solidarität zeigen. Tatsächlich ist es aber so, dass die russischsprachige Community für uns schwer erreichbar ist. Bei den Spätaussiedlern sind die klassischen Indikatoren für Integration ja auch in großen Teilen erfüllt. Die Arbeitsmarkt-Integration hat geklappt, die Sprachkenntnisse waren entweder schon vorhanden oder wurden erworben, die Integration in den Wohnungsmarkt ist geglückt und die gesellschaftliche Integration in weiten Teilen auch. Wir haben noch bei manchen ein Problem mit dem Zugehörigkeitsgefühl, der sogenannten identifikativen Integration. Die ist erstens schwer, zweitens ist auch in der Forschung umstritten, ob sie überhaupt notwendig ist. Ich weiß auch nicht, wie viele Putin-nahe Leute es in der Community gibt, weil bei uns nur die anderen ankommen. Aber angesichts der riesigen Hilfsbereitschaft und Solidarität, die ich jetzt in der russischsprachigen Community erlebe, habe ich eher das Gefühl, dass eine Chance besteht, sie noch stärker identifikativ zu integrieren und ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu steigern. Wenn man gebraucht wird, bindet man sich noch stärker an die aufnehmende Gesellschaft. Bei denen, die jetzt jemanden aufgenommen haben, die ihre Sprachkenntnisse zur Verfügung stellen, ihre kulturellen und anderen Kenntnisse, wird das auch deren Zugehörigkeitsgefühl weiter stärken.

Die Hilfsbereitschaft schein in der Gesellschaft insgesamt sehr groß zu sein. Trifft dieser Eindruck zu?

Ja, die Solidarität in der Bevölkerung, aber auch in den Kreiskommunen und in den Arbeitskreisen Asyl ist riesengroß! Es wurden unglaublich zügig sehr viele Angebote auf die Beine gestellt: Begegnungscafés, Spielgruppen, Jobbörsen, Sprachcafés, ehrenamtlicher Unterricht … Ich finde es beeindruckend, wie schnell und entschlossen Gesellschaft und Verwaltungen reagiert haben. Das liegt auch daran, dass wir seit 2015 gute Strukturen geschaffen haben, auf die wir jetzt zurückgreifen können. Wir erleben eine Welle der Solidarität und Unterstützung, müssen aber aufpassen, dass sie nicht abebbt. Wir müssen das in einen stetigen Fluss überführen und den Eindruck, es gäbe im Blick auf die Flüchtenden bei uns eine Zweiklassengesellschaft, unbedingt vermeiden.