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Armut
„Du traust dich ohne Geld nicht vor die Tür“

Drei Wochen lang ermöglicht die Ludwigsburger Vesperkirche jedes Jahr Menschen am Rande der Gesellschaft, sich stärker als Teil der Gemeinschaft zu fühlen. Doch drei Wochen sind den Organisatoren nicht genug. Sie wollen mit einer Aktion Teilhabe das ganze Jahr fördern. Denn Dazugehören ist nicht selbstverständlich, wie zwei Betroffene berichten.

Ludwigsburg. „Wir können uns das nicht leisten.“ Diesen Satz muss Judith N. (Name geändert) ihren vier Kindern im Alter von 19, 16, zwölf und zwei Jahren oft sagen. „Ich kann meinen Kindern oft nicht das bieten, was sie haben wollen“, sagt die 41-Jährige. Die Familie aus Kornwestheim lebt derzeit von Arbeitslosengeld. Über ihre Lebenssituation hat die Mutter jetzt bei einem Pressegespräch der Vesperkirche berichtet. Am Ende vom Monat bleibt nicht viel übrig. Und das bisschen muss gespart werden, falls mal die Waschmaschine kaputt geht oder ein Fahrrad, sagt Judith N.. Alles wird genau durchgerechnet. Freizeitaktivitäten kann sich die Familie da nicht leisten. „Wenn wir zu sechst ins Kino gehen würden, kostet das 30 Euro. Popcorn 20 Euro.“ Geld, das die Familie nicht übrig hat. Auch auf andere Dinge müssen sie verzichten. „Meine Tochter wollte unbedingt in die Kürbisausstellung im Blüba. Aber wir konnten nicht hin“, erzählt sie mit trauriger Stimme. „Ich kann den Querflötenunterricht meiner Tochter nicht mehr zahlen. Früher waren die Kinder im Musik- und im Sportverein. Das geht jetzt nicht mehr.“ Wenn ein Schulausflug ansteht, müssen Judith N. und ihr Mann genau rechnen.

Die 41-Jährige erinnert sich daran, dass sie selbst in einer finanziell nicht einfachen Situation aufwuchs. Sie konnte damals keine Bankkauffrau-Ausbildung antreten, weil ihre Mutter kein Geld für Anzüge übrig hatte. „Es ging deshalb nicht. Ich hätte ja nicht eine Woche lang den gleichen Anzug tragen können“, sagt sie. „Meine Kinder wissen, dass wir arm sind. Sie schämen sich nicht“, erzählt die Kornwestheimerin weiter. Die Familie lebt auf 89 Quadratmetern. „Wir sind keine schlechten Menschen. Es ist nicht immer ein freiwilliges Ding, in so einer Situation zu sein.“ Ihr Mann war Busfahrer und fiel krankheitsbedingt immer wieder aus. Vor einem Jahr ist er wegen der Krankheit arbeitslos geworden. Die Situation sei nicht leicht. „Für unsere Region, in der wir leben, ist es nicht schön, wenn du kein Geld hast. Du kannst am Sozialleben nicht teilnehmen. Du traust dich ohne Geld nicht vor die Tür“, sagt die Mutter.

Auch Jürgen B. (Name geändert) weiß, wie es ist, von wenig zu leben. „Man muss sich trauen, sich trotz Armut dazuzusetzen“, sagt der 65-Jährige beim Pressegespräch der Vesperkirche. Der Rentner wohnt in Ludwigsburg in einem 45-Quadratmeter-Appartement. 450 Euro hat er im Monat zur Verfügung für Essen, Kleidung und Reparaturen in der Wohnung. Für Freizeitaktivitäten bleibt nichts übrig. Früher war er selbstständiger Versicherungsvertreter. Als das Unternehmen, in dem er arbeitete, aufgekauft wurde, wurde er arbeitslos. „Ich habe auch zu viel getrunken“, erzählt Jürgen B.. Er stürzte ab, ließ sich seine Lebensversicherung auszahlen. „Seit neun Jahren trinke ich aber nichts mehr“, betont er. Den Anschluss an das öffentliche Leben hat er trotzdem nie verloren. Weil er seit 55 Jahren Mitglied in einem örtlichen Fußballclub ist, darf er die Spiele umsonst besuchen, erzählt er. „Ich bekomme manches umsonst, aber nur, weil ich über meine Situation spreche. Man muss sich bemerkbar machen.“

Das fällt aber nicht jedem so leicht, wissen die Organisatoren der Vesperkirchen. Und betroffen seien bei weitem nicht nur Harz-IV-Empfänger, sondern auch Alleinerziehende, Rentner oder Großfamilien. „Wenn man irgendwo nicht hinkann, weil es etwas kostet, beginnt oft der Rückzug“, sagt Projektleiterin Bärbel Albrecht. Eintrittsgelder werden zur unüberwindbaren Hürde. Damit sich alle Menschen am Rand der Gesellschaft dazugehörig fühlen können, gibt es die Vesperkirche. Aber drei Wochen, in denen verschiedene Menschen an einem Tisch gemeinsam sitzen, weil sich jeder für 1,50 Euro das Mittagessen leisten kann, sind nicht genug, finden die Organisatoren. „Wir wollen den Vesperkirchen-Gedanken auf das ganze Jahr erweitern“, erklärt Martin Strecker, Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbandes. Die Menschen sollen das Gefühl haben, nicht nur drei, sondern 52 Wochen dazuzugehören. „Wir wollen Teilhabe an vermeintlichen Selbstverständlichkeiten ermöglichen“, so Strecker. Und zwar mit einer Spendenaktion. Unternehmen, Organisationen, Vereine und Privatpersonen können Gutscheine und Geld für beispielsweise eine Schwimmbad-Saisonkarte, ein Zeitungsabonnement, einen Besuch beim Friseur, im Kino oder im Restaurant, eine Jahres-Vereinsmitgliedschaft oder für Sonntagsbrötchen spenden.

Angestoßen hat die Aktion Markus Fischer aus Bietigheim, der ehrenamtlich bei der Vesperkirche mithilft. „Es gibt viel Armut in der Mitte unserer Gesellschaft“, sagt er. Deshalb hat er zusammen mit der Diakonie die Idee ausgetüftelt. Da Fischer im Sportmarketing arbeitet, stellte er den Kontakt zu Sportvereinen für die Aktion her. So konnten als erste Kooperationspartner die Ludwigsburger Basketballer MHP-Riesen und die Bietigheimer Handballer gewonnen werden, so Fischer.

„Wir wollen mit der Aktion auch darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmt in unserer Gesellschaft, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht“, betont Martin Strecker. Die Gutscheine werden während der drei Wochen Vesperkirche 2019 an Bedürftige verlost. Der Rest soll im laufenden Jahr bei den Beratungen verteilt werden.

Für die vierfache Mutter Judith N. würde es viel bedeuten, einmal mit der gesamten Familie ins Kino gehen zu können. „Als Mama würde ich mir wünschen, dass ich mal nichts ausschlagen muss.“ Und wie verbringt die Familie Weihnachten? Es gibt trotzdem Geschenke, sagt sie, bevor sie in Tränen ausbricht. „Wir werden uns dafür verschulden.“

Info: Die 10. Vesperkirche findet vom 10. Februar bis zum 3. März 2019 in der Friedenskirche statt. Infos zum Projekt „3 Wochen Vesperkirche – 52 Wochen Dazugehören“ im Internet unter www.52wochen.jetzt.

Ich kann meinen Kindern oft nicht das bieten, was sie haben wollen.

Vierfache Mutter aus Kornwestheim