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Ein Senkrechtstarter im digitalen Raum

Eine bunt zusammengewürfelte Truppe: ADK-Absolvent Florian Gerteis (links, alias Wilhelm oder „Wimmli der Zwerg“) und sein Kollege Jonny Hoff (alias Werther oder „Wer Ther“) bei der Live-Inszenierung von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“.Fotos:
Eine bunt zusammengewürfelte Truppe: ADK-Absolvent Florian Gerteis (links, alias Wilhelm oder „Wimmli der Zwerg“) und sein Kollege Jonny Hoff (alias Werther oder „Wer Ther“) bei der Live-Inszenierung von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. Foto: privat

Augsburg/Ludwigsburg. „Mein Start ins Berufsleben ist sehr gut verlaufen“, räumt Florian Gerteis ohne Abstriche ein. Das ist noch ein wenig untertrieben: Vor kurzem war der 24-Jährige in der aktuellen Staffel der „Soko Wismar“ in einer Episodenhauptrolle zu sehen, in der mit dem Deutschen Multimediapreis ausgezeichneten Inszenierung „werther.live“ verkörpert er die Figur des Wilhelm. Direkt im Anschluss an sein Studium an der Ludwigsburger Akademie für Darstellende Kunst (ADK) erhielt er ein Festengagement am Staatstheater Augsburg.

Obwohl dort wie überall hierzulande der Spielbetrieb eingestellt werden musste und die Probearbeiten ruhen, konnte Gerteis bereits in einigen interessanten Projekten mitwirken: „Das Staatstheater Augsburg hat eine sehr ausgeprägte digitale Theatersparte“, erzählt der 1996 in Albstadt-Ebingen geborene und in Stuttgart aufgewachsene Schauspieler. Neben VR-Produktionen und konventionellen Streamingangeboten wagt sich das Vierspartenhaus am Lech auch an experimentelle Formate: „Anfang Dezember und jetzt noch mal im Januar liefen die ersten beiden Folgen unserer Theaterserie ‚W – Eine Stadt sucht ihre Wohnung‘“. Geschrieben und inszeniert von Nicola Brehmer, sei der Name Programm: Angelehnt an Fritz Langs Filmklassiker „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ gerät die Architektin Laura in der fiktiven Stadt Adelma zwischen die Fronten von Immobilienspekulanten, Politikern und Aktivisten.

Gerteis mimt neben weiteren Rollen einen Moderator. Der Clou daran: Sowohl Regiearbeit als auch Stückentwicklung finden vor den Augen und Ohren des Publikums statt – in Zeiten des Lockdowns nun im Internet statt wie ursprünglich geplant auf einer Augsburger Baustelle. Mobile Kameras fangen das improvisierte Geschehen auf der Probebühne ein, wodurch das Erlebnis eher einem Kino- als einem Theaterbesuch ähnelt.

Noch einen Schritt weiter geht „werther.live“: Die Online-Inszenierung der Wiener Regisseurin Cosmea Spelleken ist tatsächlich Theater im digitalen Raum. Mit Ausnahme von Jonny Hoff, der den Werther gibt, hat Gerteis keinen der Beteiligten je im Realen getroffen. Die Adaption von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ funktioniert komplett virtuell und kommt ohne Bühne aus.

„Vor allem im vergangenen Jahr gab es dazu bereits einige Ansätze. Aber bei vielen hat sich gezeigt, dass es superschwer ist, Theater in den digitalen Raum zu bringen. Das Geschehen auf der Bühne lässt sich nicht einfach so in den digitalen Raum projizieren“, meint Gerteis: „Bei ,werther.live‘ werden soziale Medien nicht mit Theaterinhalten bespielt, sondern so benutzt, wie sie gedacht sind: Die Figuren zoomen miteinander – so taucht Zoom in diesem Stück auf. Dass die Prämisse ‚Es findet im digitalen Raum statt‘ bei ‚werther.live‘ schon im Konzept mitgedacht wird, hat mich sofort überzeugt.“ Lotte und Werther verlieben sich via Online-Kleinanzeigen, der Austausch der Freunde Werther und Wilhelm findet über Messenger-Apps statt, das Stalken von Lottes Instagram-Profil befeuert Werthers Eifersucht auf Albert. Dass das innovative, gewissermaßen echt virtuelle Projekt der „bunt zusammengewürfelten Truppe“ nun immer größere Kreis zieht – Ausstrahlung im einflussreichen Nachtkritik-Stream, mittlerweile spiele man vor über 300 Zuschauern pro Vorstellung –, sei so nicht abzusehen gewesen: „Das ist eine Fügung, mit der ich in diesem Ausmaß nicht gerechnet hätte“, freut sich Gerteis, auf dessen Steckbrief neben Tenorgesang (von Klassik bis Jazz), Kontaktimprovisation, Tanz, Aikido und Bouldern auch Stunts und Clownerie als Skills aufgeführt werden.

Derzeit befinde er sich in Kurzarbeit und hofft, dass ab März die Proben zu „Wittgensteins Mätresse“ in Augsburg beginnen können. Dann soll auch eine Folge der „WaPo Bodensee“ zur Ausstrahlung kommen, in der Gerteis, dessen Bühnenaffinität sich zunächst im musikalischen Bereich, nämlich im Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart manifestierte, die Episodenhauptrolle spielt. Das aktuelle Vakuum nutze er, um an einem Drehbuch für ein Spielfilmprojekt zu arbeiten, über das er allerdings noch nicht allzu viel verraten möchte. Nur so viel: „Es ist ein historischer Stoff, in dem es um Völkerverständigung und Freundschaft geht.“ Dennoch mache die aktuelle Situation betroffen: Kleinere Theater gehen schon seit dem ersten Lockdown auf dem Zahnfleisch, aber auch größere Häuser müssen immer mehr schauen, was sie sich noch leisten können. „Alle haben im Moment Angst, natürlich – sowohl im Film als auch im Theater“, so seine Wahrnehmung: „Und für freischaffende Künstler aller Sparten ist das der Horror gerade.“ Um den Film müsse man sich wahrscheinlich ebenso sorgen wie ums Theater – „vom Kino müssen wir gar nicht reden!“.

Trotz aller deprimierender Aspekte der Pandemie („Natürlich vermissen wir alle das Publikum“) beobachte er aber auch „befeuernde“ Aspekte: „Was den kreativen Schaffensprozess angeht, gibt es gerade so viel Motivation wie schon lange nicht mehr. Insofern löst die Krise auch einen enormen Schub aus. Ein Stück wie ‚werther.live‘ wäre vermutlich nicht entstanden, wenn es nicht diesen Lockdown gegeben hätte. Ich hätte mich wohl kaum hingesetzt, um ein Drehbuch zu schreiben.“ Und wie sieht Gerteis seine eigene Entwicklung? „So, wie’s angelaufen ist, kann ich total zufrieden sein. Der erste Schritt ist getan, aber ich bin noch lange nicht dort angekommen, wo ich eigentlich hin möchte.“ Mehr Film- und Serienangebote stehen dabei an oberster Stelle, sagt der passionierte Kinofan.

Info: Die nächsten Termine von „werther.live“ sind am 5. und 27. Februar, 4. März.