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Lange Nacht der Inklusion 2023
Hülya Marquardt: „Mir ist klar, dass die Leute gucken“

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Hülya Marquardt moderiert am morgigen Samstag gemeinsam mit Florian Sitzmann die „Lange Nacht der Inklusion“ im Reithaus. Mit unserer Zeitung hat sich die 39-Jährige aus Weissach im Tal über Inklusion unterhalten. Das Thema hat an öffentlicher Wahrnehmung gewonnen, doch es gibt immer noch viele offene Baustellen.
Ludwigsburg.

Frau Marquardt, auf Instagram veröffentlichen Sie regelmäßig Bilder aus Ihrem Alltag und sind damit sehr erfolgreich. Was hat Instagram denn mit Inklusion zu tun?

Hülya Marquardt: Ich bin mit einem Gendefekt auf die Welt gekommen, mit einer sogenannten Dysmelie. Als ich mit 18 ins Krankenhaus musste, wurden mir beide Beine amputiert. Eigentlich war nur ein Bein vorgesehen. Aber weil sich eine Titanschraube im zweiten Bein entzündet hatte, lief es dann auf eine Doppelamputation hinaus. Mein Mann macht gerne Fotos von uns. Vor fünf Jahren schlug er vor, einfach mal ein paar Bilder auf Instagram zu stellen. Und das haben wir dann gemacht.

Warum sind so viele Menschen auf ihren Instagram-Kanal aufmerksam geworden?

Wir stellten fest, dass es auf der ganzen Welt Menschen gibt, die zum Beispiel einen schweren Unfall hatten oder im Rollstuhl sitzen. Aber es meldeten sich auch viele Leute ohne Behinderung. Zum Beispiel Mütter, die ein behindertes Kind haben. Ganz am Anfang schrieb mir eine Mutter, dass ihr Sohn nur sechs Finger hat. Bei mir ist das auch so, seit meiner Geburt. Der Junge war richtig glücklich, dass er nicht alleine auf der Welt ist. Durch solche Rückmeldungen haben wir gemerkt, dass diese Fotos etwas bewirken können.

Als Sie von der Amputation erfahren haben, muss das ein großer Schock für Sie gewesen sein. Wie sind Sie mit dieser Nachricht umgegangen?

Natürlich war das zunächst ein Schock. Ich war jung, wollte eine Ausbildung machen, und dann das. Mein Arzt wurde zu einer wichtigen Stütze. Er war selbst amputiert und hat mir Sicherheit gegeben. Ich dachte nur: toll. Der kann sich super bewegen und Leute operieren - dann kann ich meine Ziele auch erreichen. Natürlich löste die Diagnose Ängste in mir aus. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich weitermachen will. Mein Leben lag ja noch vor mir. Wenn man 60 oder 70 Jahre mit Beinen gelebt hat und dann nach einem schweren Unfall amputiert werden muss, ist das vielleicht noch schwieriger.

Wie hat Ihre Umwelt nach der Operation auf Sie reagiert?

Meine Ausbildung habe ich auf einer Handelsschule in Nordrhein-Westfalen gemacht, auf einem Internat für Menschen mit Körperbehinderung. Da war meine Amputation natürlich kein Thema. Auf der Straße bin ich aber oft darauf angesprochen worden. Viele waren schockiert und fragten, ob ich einen Unfall hatte. Auch heute noch werde ich manchmal richtig angestarrt. Ich selbst nehme das nicht mehr so wahr, mein Mann auch nicht mehr. Aber wenn wir mit Freunden unterwegs sind, fällt denen das schon auf.

Sind Sie von solchen Reaktionen genervt?

Ich kann damit umgehen und habe auch Verständnis dafür. Ich habe nun mal keine Beine. ,Und dann ist die auch noch Mutter?‘, scheinen sich viele zu fragen. Früher habe ich mich ausschließlich auf Prothesen oder im Rollstuhl fortbewegt. Aber wenn ich mit meinem Sohn, der im Mai drei Jahre alt wird, auf den Spielplatz oder ins Freibad gehe, muss ich auf den Boden und mich mit den Händen abstützen, wenn ich Spaß mit ihm haben will. Mir ist schon klar, dass die Leute dann auf uns schauen, aber das kann ich ganz gut ausblenden.

Stichwort Barrierefreiheit: Stoßen Sie in Ihrem Alltag häufig an Grenzen?

Leider ja. Dass man ein Café mit behindertengerechter Toilette findet, ist immer noch die große Ausnahme. Bei der Deutschen Bahn hat sich schon einiges zum Positiven verändert. Rollstuhlfahrer müssen sich aber immer noch 24 Stunden vorher für eine Fahrt anmelden. Wie alle anderen würde ich mich natürlich gerne spontan entscheiden können, ob ich mit der Bahn fahre. Ich will aber auch nicht zu viel klagen. Denn im Vergleich mit anderen Ländern stehen wir in Deutschland ganz gut da, finde ich. Es gibt aber immer noch viel Luft nach oben.

Viele fühlen sich im Umgang mit Menschen mit Behinderung unsicher. Wie kann man entspannt aufeinander zugehen?

Zunächst mal sollte man sich nicht zu viele Gedanken um Begrifflichkeiten machen. Ob man zum Beispiel „Behinderung“, „Beeinträchtigung“ oder „Handicap“ sagt, ist meiner Meinung nach erst mal nicht so wichtig. Eine großes Missverständnis ist, dass Menschen ohne Behinderung davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderung grundsätzlich unglücklich sein müssen. Das ist mir erst vor wenigen Tagen wieder in unserer Boutique passiert, die ich mit meiner Schwiegermutter in Weissach im Tal führe. Jemand sagte zu mir, dass ich ein schweres Schicksal habe. Ich empfinde das aber gar nicht so, und vielen Menschen mit Behinderung geht es genauso.

Haben Sie eine Idee, wie sich solchen Stigmatisierungen entgegenwirken lässt?

Ich bin davon überzeugt, dass sich die Barrieren in den Köpfen nur durch möglichst viele gegenseitige Kontakte abbauen lassen. Wenn alle offen miteinander umgehen, wird es hoffentlich irgendwann als normal angesehen, wenn ich im Freibad auf dem Boden herumkrieche.

Kontakte soll auch die Lange Nacht der Inklusion in der Reithalle ermöglichen, die Sie gemeinsam mit Florian Sitzmann moderieren. Worauf dürfen sich die Besucher freuen?

Auf eine bunte, vielfältige Veranstaltung mit Tanz, Musik, Yoga und vielen anderen Attraktionen. Ich freue mich sehr darauf - wie immer, wenn unterschiedliche Menschen und Kulturen zusammenkommen, um gemeinsam zu feiern. Nicht nur Menschen mit und ohne Behinderung, sondern auch unterschiedlicher Herkunft und Religion.

Info:

Die Lange Nacht der Inklusion findet am Samstag, 22. April, von 17 Uhr bis Mitternacht im Reithaus im Film- und Medienzentrum statt. Dabei präsentieren sich inklusive Gruppen und Projekte mit Musik, Kunst, Vorträgen und einem Mitmachangebot. Eintritt frei. Es gibt auch einen Livestream (www.scala.live).