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Soziales Leben
Wenn Nähe fehlt: Warum viele Menschen an Einsamkeit leiden

Einsamkeit
Von Einsamkeit sind vor allem Menschen mit geringem Einkommen betroffen. Auch Kranke, Behinderte und Migranten sind gefährdet. (Symbolbild) Foto: Julian Stratenschulte
Einsamkeit macht krank – und sie greift auch in Baden-Württemberg um sich. Eine neue Studie zeigt, wie das Gefühl der Isolation zum Risiko für alle werden kann.

Stuttgart. Allein zu sein oder sich einsam zu fühlen, das ist nicht dasselbe. Allein zu sein, entscheidet man meistens selbst. Einsamkeit aber ist ein Empfinden. Man fühlt sich einsam - und leidet leise. Es ist ein stilles Leiden, das seit der Corona‐Pandemie zugenommen hat und das heute fast jeden dritten Menschen in Baden-Württemberg betrifft, wie eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt.

«Einsamkeit ist kein individuelles Problem, sondern betrifft die Gesellschaft in ihrer Breite», sagte der baden-württembergische Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne). Deshalb müsse das Thema enttabuisiert werden.

Gefährdet sind laut Studie Menschen aus allen Altersgruppen, Lebenslagen und Regionen. Denn nach der landesweiten Befragung der Bertelsmann Stiftung hängen Erfahrungen mit Einsamkeit weniger damit zusammen, wo man lebt, sondern vor allem mit den sozialen Kontakten, dem Einkommen und der eigenen Gesundheit.

Wer einsam ist

Betroffen sind demnach oft Menschen mit geringem Einkommen, auch Kranke, Behinderte und Migranten sind gefährdet. Am stärksten belastet sind die 30- bis 65-Jährigen. Ältere und Jüngere sind etwas weniger gefährdet. Dabei steht und fällt das Gefühl der Einsamkeit nicht immer mit der Zahl der Freunde: «Wer von Tausenden von Bekannten und Followern umgeben ist, sich aber nicht erkannt, angesprochen und geborgen fühlt, der kann einsam sein», schreibt die Autorin und Publizistin Daniela Kinnert in ihrem Blog. Für sie hat Einsamkeit zwingend mit der Qualität sozialer Kontakte zu tun, nicht mit der Quantität.

Warum Einsamkeit gefährlich ist

Einsamkeit hat nach Überzeugung der Wissenschaft zudem gravierende Folgen für Gesellschaft, Politik und Gesundheit. Die Stiftung Patientenschutz bezeichnet sie als «die größte Volkskrankheit» und warnt eindringlich vor den Folgen.

Tatsächlich geht das Gefühl laut Bertelsmann-Studie oft mit gesundheitlichen Problemen einher, mit Schlafproblemen etwa, mit einem höheren Risiko für Herzerkrankungen und Schlaganfälle, einer schwächeren Immunabwehr. Einsame Menschen erkranken auch eher an einer Depression oder werden süchtig. «Andauernde Einsamkeit erhöht das Risiko für psychische Erkrankungen, schwächt das Immunsystem und begünstigt chronische Krankheiten», heißt es dazu auch in der Studie. Sie könne die Lebenserwartung verkürzen und den sozialen Zusammenhalt schwächen.

Mehr noch: Laut Studie engagieren sich Menschen, die sich dauerhaft einsam fühlen, gesellschaftlich seltener, sie verlieren Vertrauen in Mitmenschen und Institutionen – und sie sind weniger bereit, am politischen Prozess teilzunehmen. «Somit gefährdet Einsamkeit nicht nur das individuelle Wohlbefinden, sondern auch die Stabilität unseres demokratischen Gemeinwesens sowie die Resilienz unserer Gesellschaft in Krisenzeiten», warnen die Bertelsmann-Experten.

Einsamkeit
Das Thema muss aus Sicht von Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) enttabuisiert werden. (Symbolbild) Foto: Michael Matthey

Und was helfen könnte 

Anja Langness, Gesundheitsexpertin der Bertelsmann Stiftung, ist überzeugt, dass unter anderem soziale Orten und Begegnungsräume helfen können, Einsamkeit zu verhindern oder zumindest zu lindern. «Entscheidend für das Erleben von Einsamkeit ist der Grad an sozialer Zugehörigkeit – insbesondere zur unmittelbaren Nachbarschaft und zu persönlichen Netzwerken», sagte sie in Stuttgart. «Menschen, die sich gut in ihre Umgebung eingebunden fühlen, erleben deutlich weniger Einsamkeit.»

Die Stiftung empfiehlt deshalb ein breites Netz aus Begegnung, Aufklärung und Teilhabe: Kommunen sollten Treffpunkte schaffen, Nachbarschaften stärken und Vereine dabei unterstützen, neue Mitglieder willkommen zu heißen. Besonders wichtig seien niedrigschwellige Angebote für sozial Benachteiligte, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Kranke. Auch Unternehmen und das Gesundheitswesen sollten sensibilisiert werden, Einsamkeit früh zu erkennen.

Und jeder und jede Einzelne? «Wir können eine Rolle übernehmen, indem wir bewusst unsere sozialen Beziehungen priorisieren», sagt Maike Luhmann, Einsamkeitsforscherin und eine der Autorinnen der Studie. «Wir können schauen, dass wir uns bewusst Zeit nehmen und zum Beispiel auch mal beim Nachbarn klingeln, der sich nie blicken lässt.» Oft gehe es mit kleinen Schritten wie Respekt und Rücksichtnahme los, wenngleich diese nie ausreichten angesichts dieses strukturellen Problems.

Thema Einsamkeit bekam zuletzt mehr Aufmerksamkeit

Generell ist das Thema Einsamkeit in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus gerückt. Das Landesgesundheitsministerium etwa will durch Ideenwettbewerbe innovative Projekte gegen Einsamkeit fördern. Die Stadt Stuttgart hat als bundesweit erste Kommune eine Strategie gegen Einsamkeit vorgelegt. Initiativen und Rathaus reagieren mit Spaziergängen, Kampagnen und Strategien, um die eigentlich Unerreichbaren zu erreichen. Und Nordrhein-Westfalen verabschiedete Ende vergangenen Jahres einen Aktionsplan gegen Einsamkeit.

In Deutschland setzt sich das Bundesfamilienministerium mit mehreren Projekten für die Belange einsamer Menschen ein. Das Kompetenznetz Einsamkeit hat untere anderem eine digitale Deutschlandkarte mit Hilfsprojekten gegen Einsamkeit erstellt.

© dpa-infocom, dpa:251103-930-243760/1