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Stolperfallen im Pflegeheim

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„Es handelt sich um keinen Einzelfall“: Ulrike Jocham. Foto: die arge lola
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„Es handelt sich um keinen Einzelfall“: Ulrike Jocham. Foto: die arge lola
Ulrike Jocham ist Expertin für barrierefreies Bauen. Sie hat im Erligheimer Kleeblatt-Pflegeheim und im Betreuten Wohnen Hindernisse für die Bewohner entdeckt. Im Interview berichtet sie davon.

Ludwigsburg. Frau Jocham, Sie haben das neue Pflegeheim und das Betreute Wohnen in Erligheim besichtigt und dabei Problematisches festgestellt. Was genau?

Ulrike Jocham: Die Besichtigung habe ich im Rahmen meiner Publikationstätigkeit für die Fachzeitschrift „Behinderte Menschen“ zusammen mit Antonio Florio, dem Inklusionsaktivisten und ersten Vorsitzenden von „Selbstbestimmt leben“ im Landkreis Ludwigsburg sowie Experten in eigener Sache, durchgeführt. Dabei sind uns neben anderen Kritikpunkten insbesondere die ein bis zwei Zentimeter hohen Türschwellen aufgefallen, die nicht nur bei den Zugängen zu den Balkonen im Betreuten Wohnen, sondern auch bei den Terrassentüren zum Innenhof und zum Garten des Pflegeheims eingebaut wurden. Bei den Terrassentüren hat mich zusätzlich besonders gestört, dass ein Bewohnerzimmer sogar über zwei Terrassentüren verfügt, die allerdings durch eine Festverglasung getrennt werden. Wären die beiden Terrassentüren zusammen als eine schwellenfreie Stulptür geplant worden, könnten ältere Menschen, die aufgrund von hohem Pflegebedarf die meiste Zeit im Bett liegen, auch im Bett liegend ganz leicht auf die Terrasse geschoben werden. Eine verschenkte Chance für optimierte Baukostenverwendung sowie Qualitätssteigerung und Teilhabe im Pflegeheim!

 

Warum stellen bereits Schwellen von ein bis zwei Zentimetern ein Problem dar?

Sie sind für jeden eine Sturzgefahr. Man kann zum Beispiel leicht mit dem Fuß hängen bleiben oder deshalb aus dem Rollstuhl fallen. Für alle und insbesondere für ältere Menschen können Stürze katastrophale Folgen nach sich ziehen. Sturzprävention steht in der Profession Pflege ganz oben, ist aber erstaunlicherweise in der Baubranche völlig unzureichend präsent. Zusätzlich stellen für immer mehr Menschen mit Behinderung ein bis zwei Zentimeter hohe Türschwellen unüberwindbare Hindernisse dar.

 

Ist die Erligheimer Einrichtung ein Einzelfall oder finden Sie bei Ihren Stichproben andernorts Ähnliches vor?

Es handelt sich hier definitiv um keinen Einzelfall. Alle meine bisher durchgeführten Stichproben haben mein Erfahrungswissen untermauert: Von zehn neuen Wohnanlagen des Betreuten Wohnens sind mindestens neun, wenn nicht gar alle zehn ohne jeglichen technischen Bedarf mit ein bis zwei Zentimeter hohen Außentürschwellen verbaut. Das zuständige Wirtschaftsministerium hat auf meine Aufforderung in meinem Schreiben vom 19. April 2017, ein gemeinsames Überprüfungsprojekt zu starten, bis heute nicht reagiert.

 

Dabei ist die Forderung der Schwellenlosigkeit durch Ihr Mitwirken bereits seit 2015 in die Landesbauordnung aufgenommen worden, nicht wahr?

Ja, ein breit kommunizierter Runderlass der obersten Baurechtsbehörde vom 16. Dezember 2014 schreibt klar und deutlich innerhalb des sogenannten barrierefreien Bauens nach Landesbauordnung Nullschwellen vor. Davor, im Herbst 2014, war ich entsetzt, wie wenig demografietauglich, bürgerorientiert und inklusiv die neue Landesbauordnung werden sollte, obwohl der demografische Wandel schon mehr als lange bekannt ist und unsere Landesregierung schon damals verpflichtet war, das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung – vom Bundesgesetzblatt 31.12.2008 – umzusetzen. Ich entschloss mich zu einem dreimonatigen, alles gebenden Endspurt, der mich am 6. Dezember 2014 mit starker Unterstützung aus der Selbsthilfe bis zum Verkehrsminister Winfried Hermann brachte. Zehn Tage später wurde Baden-Württemberg zum einzigartigen Nullschwellen-Vorreiter.

 

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass sich Bauherren bis heute nicht daran halten?

Die Bauherren werden unzulänglich über Nullschwellen aufgeklärt. Die Bauträger, Planer, Fensterbauer, Bausachverständigen und die Baurechtsbehörden verfügen über viel zu wenig interdisziplinäres Wissen und es gibt bis jetzt keine Konsequenzen.

 

Was müsste sich ändern, dass Bauherren die Vorgaben auch wirklich umsetzen?

Die vorhandenen Macht- und Kontrollsysteme müssen sich ändern und das vorhandene Lernpotenzial genutzt werden. Was haben entscheidende Stellen wie zum Beispiel die Handwerks- und die Industrie- und Handelskammer, die ja sogar mit der öffentlichen Bestellung von Bau-Sachverständigen beauftragt sind, und die Architektenkammer für die Umsetzung des Runderlasses getan beziehungsweise nicht getan? Was wurde in anerkannten Weiterbildungen zum Thema Barrierefreiheit den Architekten vermittelt? Wie ist der Wissensstand von Baurechtsbehörden und Behindertenbeauftragten? Hier im Landkreis Ludwigsburg habe ich selbst, nachdem ich den zuständigen ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten Dr. Eckart Bohn über die bestehenden Vorschriften informiert habe, keine Unterstützung vom ihm erlebt. In einer derartig verantwortungsvollen Position sind aus meiner Sicht höchstes Engagement, Konfliktfähigkeit und multiprofessionelle Qualifikationen sowie insbesondere hauptamtliche Besetzungen gefragt.

 

Was haben Sie bereits unternommen, damit sich bei der Barrierefreiheit mehr tut?

Seit Jahren verfasse ich zahlreiche und professionsübergreifende Publikationen zu diesem Thema, informiere durch meine Vorträge, Weiterbildungsangebote und Lehraufträge, unterstütze mit meinen Beratungsangeboten als interdisziplinäre Vermittlerin und Brückenbauerin und bohre beständig Löcher in ganz dicke Bretter. Nachdem aber meine jahrelange Informationsvermittlung zu keiner befriedigenden Nullschwellen-Umsetzung beim Bau geführt hat, blieb mir gar nichts anderes übrig, als einen Veränderungsdruck von außen zu erzeugen. Ein großer Erfolg ist schon jetzt sichtbar, das Landratsamt Ludwigsburg hat in Aussicht gestellt, zukünftig verstärkt ein Augenmerk auf die Nullschwelle zu legen. Da die Schwellenfreiheit in der Baugenehmigung laut Landratsamt gefordert worden sei, würde nun geprüft, ob im vorliegenden Fall in Erligheim ein Einschreiten in Betracht komme. Dieser Erfolg im Landkreis Ludwigsburg wäre aber ohne die beachtliche Unterstützung von Antonio Florio und der Innovationskraft der Fachzeitschrift „Behinderte Menschen“ nicht möglich gewesen.

 

Woher rührt Ihr unglaublich großes Engagement in dieser Sache?

Mein Antrieb kommt aus extrem prägenden Erfahrungen, die ich in Einrichtungen der Kinder- und Jugend- sowie Alten- und Behindertenhilfe direkt an der Basis als Heilerziehungspflegerin sammeln konnte, tief berührend positive, aber auch erschreckend schlimme. Schon als junger Mensch ist daraus der starke Wunsch in mir gewachsen, bessere Wohn- und Lebensformen für alle zu schaffen, gleichberechtigt, stärkend und selbstbestimmt für möglichst jeden und vor allem unabhängig vom jeweiligen Hilfebedarf. Für dieses Ziel eigne ich mir seitdem beständig und professionsübergreifend Wissen an.

 

Heute kenne ich inklusive und demografieorientierte Lösungen mit spannenden Synergieeffekten und ressortübergreifendem Einsparpotenzial. Meine Schnittstellenkompetenz und meine Leidenschaft für diese beachtlich nachhaltigen Chancen für uns alle befähigen mich, wirklich alles mir Mögliche zu tun, um Nullschwellen als unverzichtbare Grundlage für zukunftstaugliche und inklusive Gebäude Realität werden zu lassen. Ich will Lösungen für die echt großen Probleme unserer Gesellschaft und ich habe deshalb kein Verständnis, wenn längst vorhandene Antworten dafür ignoriert werden.

 

Zur Person

Seit mehr als 25 Jahren für Inklusion engagiert

 

Ulrike Jocham ist gelernte Heilerziehungspflegerin und hat Architektur studiert mit Weiterbildung in Sozialraumentwicklung und Forschung. Zudem ist sie Sachverständige für Schäden an Gebäuden und Wertermittlung sowie für Barrierefreiheit und Universal Design. Als Expertin setzt sie sich für inklusive Wohn-, Lebens-, Lern- und Arbeitsprojekte ein, verfügt über eine mehr als zweijährige Projektmanagement-Erfahrung zur Implementierung des Bielefelder Modells in Stuttgart, das quartiersbezogen älteren und behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen soll bei gleichzeitiger Sicherheit, im Bedarfsfall auf Hilfs- und Betreuungsangebote zurückgreifen zu können. Sie engagiert sich seit mehr als 25 Jahren für Inklusion, speziell für Schwellenfreiheit und Nullschwellen, und wirkt als interdisziplinäre Vermittlerin und Brückenbauerin zwischen den Professionen. (lui)