Riedlingen. Annika Kling (21) und Efe Yüksel (23) saßen im Regionalzug, der im Juli bei Riedlingen urplötzlich aus den Gleisen springt. Kling und Yüksel wurden beide verletzt – und beide fahren seit dem traumatischen Vorfall nicht mehr mit dem Zug. Die quälenden Bilder von Verletzten, die Schreie und das Weinen von Fahrgästen bekommen sie auch vier Monate nach dem Unglück nicht mehr aus dem Kopf.
Opfer setzen sich nicht mehr in Züge
«Zugfahren traue ich mich nicht, das packe ich nicht. Einfach diese Machtlosigkeit, die wir in dem Moment hatten, das ertrage ich nicht. Deswegen fahre ich jetzt auch nur noch Auto», erzählt Yüksel, von Beruf Systemingenieur. Sein rechter Ringfinger wurde schwer verletzt, er musste operiert werden. Der Finger sei jetzt einen Zentimeter kürzer und verformt. Am Körper habe er Schürfwunden erlitten. Sein Rücken schmerze seit dem Vorfall regelmäßig.

Annika Kling, die als Pflegefachfrau auf einer Intensivstation arbeitet, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, ihr Schlüsselbein war gebrochen. «Am schlimmsten war aber mein Bein, weil das eingequetscht war.» Sie habe heute noch Schmerzen. Direkt nach dem Unglück sei sie für kurze Zeit gezwungen gewesen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, denn sie hatte kein Auto. «Das war richtig schrecklich für mich. Ich habe eigentlich die ganze Zeit nur da gesessen und immer meine Augen zugemacht und halt gewartet, dass es vorbei ist. Ich hatte auch Panikattacken».
Beide sagen, dass sie viel Glück gehabt hätten an dem Tag. Denn sie saßen im ersten Waggon. «Dass wir nur mit so "kleinen" Verletzungen davon gekommen sind, ist schon echt ein Wunder», sagt Yüksel. Bei dem Unglück kamen drei Menschen ums Leben. Dutzende Fahrgäste wurden verletzt.
«Wenn so etwas passieren kann, kann immer etwas passieren»
Kling und Yüksel kennen sich aus der Schule, waren aber am Unglückstag komplett unabhängig voneinander im Zug. «Ich wusste nicht, dass er in den Zug ist. Ich habe ihn erst gesehen, als wir eingeklemmt dalagen und er lag neben mir. Ja, das war komisch», erzählt Kling.
Beide denken viel an den Unglückstag. «Ich bin, glaube ich, ein bisschen paranoid geworden seitdem. Also mir scheint nichts mehr unwahrscheinlich. Wenn so etwas passieren kann, kann immer etwas passieren», erzählt Kling. In solchen Momenten merke man, wie schnell es vorbei sein könne. «Zwei Sekunden und dann man kann nichts mehr machen. Das ist schon verrückt.»
Yüksel beschäftigt sich viel mit der damaligen Auswahl der Sitzplätze. «Da hatten wir voll Glück gehabt, dass wir an dem Tag die richtigen Sitze ausgewählt haben. Das ist so eine Entscheidung: Du steigst in den Zug ein und setzt dich eigentlich irgendwo hin. Aber dass diese Entscheidung unser Leben am Ende gerettet hat, ist halt auch echt heftig».

Erst ein Knall, dann Dunkelheit und ängstliche Schreie
Was als normale Zugfahrt begann, endete im Juli im Chaos. «Es hat viel geregnet an dem Tag und dann gab es auf einmal einen lauten Knall. Es wurde auf einmal dunkel. Wir wurden herumgeschleudert und lagen zwischen zwei Stühlen eingeklemmt», sagt Kling.
Sie wurde erst gegen die Waggonwand geschleudert. «Und dann habe ich nach rechts geschaut und ich habe gesehen, wie der Mann neben mir hochgeflogen ist. Und ich bin dann auch an die Decke geflogen. Gepäck und Leute sind alle mich herumgeflogen», sagt Kling.
Yüksel erinnert sich an einen lauten Knall. «Wir wurden dann an die Decke, an die Wand geschleudert, wie so Steine in einem Schuhkarton». Für eine kurze Zeit herrschte gespenstische Ruhe im Waggon. Er konnte seine Augen zunächst nicht öffnen. «Und dann hat es irgendwann angefangen. Es gab Schreie, es gab ängstliche Schreie. Es roch sehr nach Benzin, das auf uns geflossen ist.»
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