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Resilienzforscher: „Besonders junge Menschen sind belastet“

Klaus Lieb ist in Ludwigsburg aufgewachsen und hat 1985 am Goethe-Gymnasium sein Abitur gemacht. Foto: JGU Mainz/Hartmann(p)
Klaus Lieb ist in Ludwigsburg aufgewachsen und hat 1985 am Goethe-Gymnasium sein Abitur gemacht. Foto: JGU Mainz/Hartmann(p)
Was macht die Coronapandemie mit der Psyche der Menschen? Mit dieser und anderen Fragen beschäftigt sich der in Ludwigsburg aufgewachsene Mediziner und Resilienzforscher Klaus Lieb. Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtet er, welche Menschen gut durch die Krise kommen, welche Langzeitfolgen die Pandemie haben könnte und welche Chancen in ihr stecken.

Ludwigsburg. Die Coronasituation hat sich erneut zugespitzt. Viele Menschen empfinden eine gewisse Ausweglosigkeit, sind psychisch angespannt. Was kann ihnen helfen?

Klaus Lieb: Wir befinden uns inzwischen in der vierten Welle der Coronapandemie. Kaum jemand hätte es vor zwei Jahren für möglich gehalten, dass eine Pandemie die ganze Weltbevölkerung über eine so lange Zeit in Atem hält. Gleichzeitig wurden in einmalig kurzer Zeit mehrere Impfstoffe entwickelt, mit denen wir jetzt die Möglichkeit haben, die Pandemie ganz zu besiegen. Und es gibt erste Hinweise dafür, dass die zusätzlich ergriffenen Maßnahmen helfen, dass die vierte Welle gebrochen werden kann. Gerade wegen des Impfstoffs besteht die begründete Hoffnung, dass sich die Situation perspektivisch wieder in Richtung Normalität entwickelt.

Gleichwohl macht sich auch Enttäuschung und Frust darüber breit, dass es wieder zu harten Maßnahmen kommen musste. Ausweglos ist die Situation aber nicht, wir haben die notwendigen Werkzeuge. Ich glaube, es hilft aktuell nur eine radikale Akzeptanz, dass es so ist, wie es ist, und dass wir alle schauen müssen, das Beste daraus zu machen. Und das gelingt den meisten Menschen: Der Großteil der Bevölkerung kommt trotz Belastungen stabil und resilient durch die Krise.

Kann man die psychische Widerstandskraft trainieren?

Die psychische Widerstandskraft bezeichnet man auch als Resilienz, das heißt, trotz kurzfristiger oder anhaltender Stressfaktoren psychisch gesund zu bleiben. Resilienz ist kein unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal, sondern etwas Dynamisches, das sich über die Zeit ändern kann. Wir kennen das alle von uns selbst, dass uns manchmal Stress mehr und manchmal weniger ausmacht. Sich stark machen in Krisen kann dann manchmal einfach bedeuten, dass man sich besinnt, was einem in der letzten Krise geholfen hat.

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass diese Selbstwirksamkeitserwartung in Krisen ein besonderer Schutzfaktor ist. Wer die Kraft der Resilienz nicht aus sich selbst holen kann, kann diese aber auch trainieren, es gibt viele gute Ratgeber dazu, aber auch professionelle Trainings, wie wir sie am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz anbieten.

Warum reagieren Menschen eigentlich so unterschiedlich auf Krisensituationen? Von Panik bis Zynismus erleben wir derzeit alles. Hat das mit individuellen Erfahrungen oder grundsätzlichen Einstellungen zu tun? Oder ist die innere Haltung Krisen gegenüber sogar angeboren?

Wie gesagt ist die Resilienz dynamisch und keine stabile Persönlichkeitseigenschaft. Jeder Mensch reagiert sehr unterschiedlich auf Krisen, geht unterschiedlich damit um, und auch über die Lebenszeit kann die Resilienz ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Veranlagungsfaktoren spielen dabei eher eine untergeordnete Rolle, viel wichtiger sind Lernerfahrungen: Wie sind unsere Eltern oder wichtige Bezugsperson mit Krisen umgegangen? Haben sie uns gezeigt, dass man nicht den Kopf in den Sand steckt, sondern Probleme aktiv angeht und zu lösen versucht? Haben sie uns die Gewissheit gegeben, dass jeder Stärken in sich hat und über sich hinauswachsen kann, statt uns klein und hilflos zu machen? Haben sie uns gezeigt, dass man in Krisen nicht allein sein muss, sondern dass man Hilfe suchen und auch annehmen muss? Wissenschaftlich ist gut belegt, dass ein solches aktives Problemlöseverhalten, Optimismus und sozialer Zusammenhalt die Resilienz stärken können.

Unterscheiden sich unterschiedliche Gesellschaftsgruppen in ihrem Umgang mit der Coronakrise? Gibt es, allgemein gesprochen, mental widerstandsfähige und weniger widerstandsfähige Gruppen?

Unsere Studien haben gezeigt, dass in der Coronapandemie insbesondere junge Menschen sehr belastet waren. Sie befinden sich in einer Lebenssituation, in der sie die einschränkenden Maßnahmen wie ein Lockdown oder Schulschließungen besonders hart treffen. Auch Frauen sind stark betroffen, was wir generell bei psychischen Belastungen sehen. Leider hat sich auch gezeigt, dass insbesondere die Menschen besonders belastet waren, die weniger Geld zur Verfügung haben und schlechter gebildet sind. Für mich ist es besonders wichtig, gerade auf diese vulnerablen Gruppen zu achten und vor allem hier Hilfen anzubieten.

Woran merke ich, dass mich die Pandemie psychisch belastet?

Psychische Belastung drückt sich bei jedem anders aus. Das für sich herauszufinden, ist wichtig, um Stress überhaupt wahrnehmen zu können und als Signal zu verstehen, etwas zu ändern. Oft drückt sich Stress körperlich aus mit Befindlichkeitsstörungen wie Schlafstörungen, Unruhe, andere sind gereizt bis hin zur Aggressivität, wieder andere ziehen sich zurück und wollen niemand um sich haben.

Diese Stresssymptome wahrzunehmen ist wichtig und der erste Schritt zur Veränderung. Denn wenn Stress chronisch wird, sprechen wir von einem „Burn-out“ – darunter verstehen wir eine lang anhaltende Stressreaktion, die das Risiko deutlich erhöht, psychisch krank zu werden, also eine Depression, eine Angststörung oder eine Suchterkrankung zu entwickeln. Das Rad kann man in der Regel rechtzeitig zurückdrehen, wenn man die Warnsignale nicht übersieht.

Gibt es Menschen, deren Psyche durch diese Situation sogar gestärkt wird, im Sinne einer Art Abhärtung. Menschen, die vielleicht sogar angeregt werden, durch diese belastende Situation über sich hinauszuwachsen?

Wir wissen aus vielen wissenschaftlichen Studien, dass Menschen an belastenden Situationen wachsen können. So kommen zum Beispiel gerade die gut durch Krisen, die in ihnen auch etwas Positives, eine Chance, eine Gelegenheit sich weiterzuentwickeln sehen können. Diese kognitive Flexibilität ist ein wichtiger Resilienzfaktor. Wer Krisen nur als Bedrohung wahrnimmt, sich zurückzieht, sich hilflos erlebt, hat es schwerer. Natürlich kann man so eine Haltung nicht auf Kommando lernen. Aber was spricht dagegen, es einfach mal auszuprobieren? Auch in der Coronapandemie konnten viele etwas Positives sehen – die neuen digitalen Möglichkeiten, die höhere Flexibilität im Homeoffice, die Begegnung mit Menschen, die uns wichtig sind, die Ausrichtung auf das, was wirklich zählt im Leben. Man muss nicht immer nur den Blick auf das Negative richten!

Gab es bisher eine vergleichbare Situation für die Psyche der Menschen in Deutschland?

Ich bin sicher, dass die beiden Weltkriege eine noch viel größere Belastung für die beteiligten Staaten und deren Bürgerinnen und Bürger waren. Aber direkt lässt sich das natürlich nicht vergleichen. Alte Menschen haben immer wieder berichtet, dass sie auch deswegen besser durch die Coronapandemie gekommen sind, weil sie sich an die Bewältigung schwerer Zeiten erinnert haben. Wer die entbehrliche Nachkriegszeit oder die furchtbaren Krankheiten wie Pocken, Diphtherie, Tetanus und Kinderlähmung, die dank Impfung heute praktisch ausgerottet sind, erlebt hat, hat oft die Gewissheit, auch die Zeit der Pandemie gut bewältigen zu können.

Was vermuten oder wissen Sie? Wird die Coronapandemie die Psyche und damit auch das Verhalten der Menschen langfristig verändern? Wird eine Art Angst voreinander bleiben?

Ich denke schon, dass die Pandemie an unserer Gesellschaft nicht spurlos vorbeigehen wird. Sie hat viel offenbart, was bisher nicht genügend Aufmerksamkeit erfahren hat. Auch die Bedeutung psychischer Belastungen und psychischer Erkrankungen gehört dazu. Aber das Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Berührungen wird auch nach der Pandemie bleiben und vielleicht ist es sogar bewusster geworden.

Viel größer ist meine Befürchtung, dass wir schnell zur Tagesordnung übergehen und vielleicht sogar die Chancen, die uns die Pandemie geboten hat, verspielen. Ich denke zum Beispiel an die tollen Möglichkeiten von Videokonferenzen, die die ständige berufliche Mobilität reduzieren oder die tollen neuen flexiblen Arbeitszeitmodelle, die wir in der Pandemie ausprobiert und schätzen gelernt haben.

Es kommt einem so vor, als habe die Politik in ihrer Kommunikation stets zwischen naiven Beschwichtigungen und Panikmache gewechselt. Welche Auswirkungen kann das für die Psyche von Menschen haben?

Während der Pandemie hat sich gezeigt, dass eine gute Kommunikation für die Akzeptanz von Maßnahmen oder die Annahme von Impfangeboten sehr wichtig ist. Gleichzeitig ist und war die Pandemie immer sehr dynamisch, so dass exakte Voraussagen immer schwer zu treffen waren. Die Menschen wünschen sich in bedrohlichen Situationen Sicherheit, dass ihnen jemand sagt, wie es genau ist und was genau auf sie zukommt. Das ist verständlich. Statt auf die Politik oder die Wissenschaft zu schimpfen, sollten wir alle gemeinsam unseren Teil dazu beitragen, dass die Pandemie schnell überwunden ist. Dazu gehört auch, dass Gespräch mit allen zu suchen, die sich damit schwertun.

Resilienz in einer gewissen Weise ein Modebegriff. Was verstehen Sie als Wissenschaftler unter dem Wort?

Resilienz ist die Fähigkeit, trotz akuter oder anhaltender belastender Situationen psychisch gesund zu bleiben. Der Begriff wird heute in vielfältiger Weise angewandt. So sprechen wir in aktuellen Diskussionszusammenhängen zum Beispiel auch von resilienten Gesellschaften, wenn wir ausdrücken wollen, wie beispielsweise demokratische Systeme trotz gegenläufiger Strömungen stabil bleiben können, oder von der Resilienz von Ökosystemen, wenn wir ausdrücken wollen, wie unsere Natur oder das Klima stabil bleiben können trotz Erderwärmung und erhöhtem CO-Ausstoß.

Sie forschen zur Resilienz. Welche Rolle spielt dabei die Coronalage für Sie?

Unser Forschungsinstitut wurde zum 1.Januar 2020 in die Leibniz-Gemeinschaft aufgenommen. Als ein Institut, das sich mit der psychischen Resilienz beschäftigt, war die Coronapandemie natürlich eine aktuelle Situation, die wir auch wissenschaftlich untersucht haben. So haben wir viele Risiko- und Schutzfaktoren in der Krise identifiziert, von denen ich oben teilweise gesprochen habe. Wir haben auch auf europäischer Ebene Empfehlungen erarbeitet und uns in vielfältiger Weise national und international vernetzt. Ich bin überzeugt, dass die psychischen Auswirkungen von Krisen und das Verhalten der handelnden und betroffenen Menschen in Krisen noch besser verstanden werden müssen, damit wir auch andere Krisen wie den Klimawandel bewältigen können. Das geht nur, wenn Menschen belastbar sind und motiviert werden können, ihr Verhalten an neue Situationen anzupassen. Dafür brauchen wir die Resilienzforschung.