1. Startseite
  2. Lokales
  3. Stadt Ludwigsburg
Logo

Ludwigsburg
50 Jahre Didymos: Erika Hoffmann macht das Tragetuch salonfähig

Anna Hoffmann (links) und Tina Hoffmann führen das berufliche Erbe ihrer Mutter Erika fort. Sie war vor 50 Jahren Pionierin in Sachen Tragetuch in Deutschland. Holm Wolschendorf
Anna Hoffmann (links) und Tina Hoffmann führen das berufliche Erbe ihrer Mutter Erika fort. Sie war vor 50 Jahren Pionierin in Sachen Tragetuch in Deutschland. Holm Wolschendorf
Mit diesem Foto fing alles an: Erika Hoffmann mit einer ihrer Zwillingstöchter im Tragetuch.Archivfotos: Didymos/Familie Hoffmann
Mit diesem Foto fing alles an: Erika Hoffmann mit einer ihrer Zwillingstöchter im Tragetuch. Foto: Didymos/Familie Hoffmann
350_0900_39115_Foto01.jpg
Praktische Hilfe, auch bei der Küchenarbeit: Erika Hoffmann mit einer ihrer Zwillingstöchter.
Praktische Hilfe, auch bei der Küchenarbeit: Erika Hoffmann mit einer ihrer Zwillingstöchter.
350_0900_39118_Foto02.jpg

Ludwigsburg. Frauen, die ihr Kind in einem Tragetuch am Körper tragen, das ist in der Ludwigsburger Innenstadt heute kein seltener Anblick. Auch über Väter mit Kind in einer Trage oder einem bunten Tuch wundert sich im Jahr 2022 in Deutschland niemand mehr. Dass das Tragen hierzulande in Mode kam, ist Erika Hoffmann zu verdanken. Dabei war es keineswegs ihre Mission, ein Unternehmen zu gründen und zur Pionierin des Tragetuchs zu werden.

Erika Hoffmann ist zur Firma gekommen, wie die Jungfrau zum Kinde

„Unsere Mutter ist zur Firma gekommen wie die Jungfrau zum Kinde“, erinnern sich ihre Töchter Anna und Tina Hoffmann beim Gespräch in der Firmenzentrale von Didymos, mitten in der Ludwigsburger Innenstadt. Als Erika Hoffmann Anfang der 70er Jahre die Zwillinge Tina und Lisa bekommt, hat sie schon einen Sohn und eine Tochter. Sie ist auf der Suche nach pragmatischen Lösungen für das Leben mit vier Kindern und knotet sich ein Rebozo um, ein klassisches Kleidungsstück aus Mexiko, das ihr eine Freundin geschenkt hat. Fortan trägt sie mal Tina, mal ihre Zwillingsschwester Lisa im Tuch – ganz nach Art der indigenen Völker. „Unsere Mutter musste sich wüste Sachen anhören, bis hin zu rassistischen Äußerungen“, weiß Anna Hoffmann, die damals dreieinhalb Jahre alt ist und an der Hand der Mutter läuft. „Mir braucha so a Glumps net, mir hen a Oma.“ Das sei einer der bösartigen Kommentare, der bis heute überliefert ist. Die Familie ist gerade nach Massenbachhausen im Heilbronner Umland gezogen. Vater Claus Hoffmann arbeitet als Architekt, Mutter Erika hat immer von einer Großfamilie geträumt – am liebsten mit sechs Kindern. „Mit einem Kind war sie nicht ausgelastet.“ Nach einem Bericht der lokalen Zeitung wird auch das Magazin Der Stern auf die vierfache Mutter aufmerksam. Es ist schließlich dieser Bericht, der alles ins Rollen bringt. Die Redakteurin Christine Heide findet Gefallen an der Frau, die ihre Töchter nach Art der indigenen Völker trägt. Erika Hoffmann soll nach Hamburg fliegen und für die Fotos die Tücher für das bildschöne Fotomodell knoten. Doch zufrieden ist sie mit dem Ergebnis nicht. Und das liegt nicht daran, dass der Knoten nicht sitzt. Sie vermisst die Mutter-Kind-Dyade, keine Spur einer innige Beziehung bei dem Fotomodell und dem Baby im Tuch. Denn das sei Erika Hoffmann immer wichtig gewesen, Nähe und Bindung zu ihren Kindern steht für sie im Fokus, lange bevor die Idee des Attachment Parenting in Mode kommt. Die Hamburger Journalistin Christine Heide versteht und schickt kurzerhand den Fotografen ins Schwabenland, um Erika Hoffmann mit einem ihrer Zwillingsmädchen zu fotografieren. Es ist schließlich auch die Stern-Journalistin, die den Namen Didymos (Altgriechisch für Zwillinge) ins Spiel bringt und Erika Hoffmann ein renommiertes Büro vermittelt, das die Markenrechte sichert. „Manchmal war sie ganz schön naiv“, sagt ihre Tochter Tina liebevoll, aber eigentlich habe die Mutter ja auch gar nicht vorgehabt, ein Unternehmen zu gründen. Eine gewisse Portion Naivität habe sich auch beim Umzug von Massenbachhausen nach Ludwigsburg gezeigt. „Auf einmal hat sie niemand mehr gefunden.“ Die Nachfrage bricht ein, einfach weil niemand Didymos in Ludwigsburg vermutet. Damals ist Erika vom international tätigen Unternehmen noch weit entfernt. „Ich kann mich erinnern, dass sie immer wieder Angst hatte, das aufgeben zu müssen“, sagt Tina Hoffmann, die heute die Geschäfte des Unternehmens führt.

Lesen Sie hier: Junge Mutter aus Ludwigsburg berät zu Stoffwindeln

Nach der Veröffentlichung im Stern trudeln aus ganz -Deutschland Bestellungen ein

Nach der Veröffentlichung im bundesweit erscheinenden Magazin trudeln aus ganz Deutschland Anfragen ein. Die ersten Tücher lässt Erika Hoffmann noch vor Ort einkaufen, vom Händler einer Schokoladenmanufaktur, zu der es entfernte verwandtschaftliche Beziehungen gibt. Der Import und die bürokratischen Hürden sind eine Herausforderung, genauso wie der Vertrieb. Erika Hoffmann klappert Webereien im Ländle ab und findet schließlich eine, die nach ihren Vorstellungen und ohne giftige Chemikalien produziert. Doch sie muss eine große Stückzahl abnehmen. „Jetzt erst recht“, ist ihr Gedanke, der in schwierigen Situationen oft gekommen sei. Erika Hoffmann ist ehrgeizig und fleißig. Tagsüber kümmert sie sich um die Kinder und arbeitet so manche Nacht durch. Schreibt Verlage an, antwortet Eltern, verschickt Tücher, arbeitet an neuen Knotentechniken. Ihre Töchter erinnern sich an die unglaubliche Energie der Mutter, die auch viel Kritik aushalten muss. „Getragen haben sie die Fürsprecher“, erinnern sich Anna und Tina Hoffmann. Denn Hebammen, Ärzte und Wissenschaftler sehen viele Vorteile im Tragen. Didymos-Tücher werden bald auf Frühchen-Stationen eingesetzt und von Hebammen weiterempfohlen.

Die Zahl der Wettbewerber ist groß, längst haben auch große Kinderwagenhersteller Tragesysteme im Sortiment

„Heute ist es keine Frage mehr, ob man trägt, sondern nur, wie“, sagen Anna und Tina Hoffmann. Die Zahl der Wettbewerber ist groß, längst haben auch große Kinderwagenhersteller Tragesysteme im Sortiment. Doch bis das Tragen in der Mitte der Gesellschaft ankommt, ist es ein langer Weg. „Das Internet hat für einen großen Schub gesorgt“, erinnert sich Tina Hoffmann. In den 2000er Jahren vernetzen sich Frauen, die ihr Kind tragen wollen, in Elternforen im Internet, tauschen sich aus, bestärken sich. Das schlägt sich auch in den Geschäftszahlen von Didymos nieder. „Auch beim Internet hatte unsere Mutter den richtigen Riecher“, Erika Hoffmann hat sich um eine eigene Internetseite bemüht, als das Gros der Nutzer noch männliche Technikexperten waren.

Die Geschichte von Didymos steckt voller Familienerinnerungen

Die Geschichte von Didymos steckt voll von Familienerinnerungen und Anekdoten. Die Bindeanleitungen für die Tücher zeichnet beispielsweise ein Straßenkünstler, den Claus Hoffmann in Stuttgart ausfindig macht. Kommen Ware oder Prospekte in Hoheneck an, helfen die Kinder und oft auch deren Freunde mit, die Kisten in den Keller des Wohnhauses zu schaffen. Dort ist bis zur Eröffnung des Büros in der Ludwigsburger Innenstadt die Firmenzentrale. Zu Hause ist Schönschrift gefragt, die Kinder bessern mit Adressenschreiben ihr Taschengeld auf. „Als Kind hätte ich bei ,Wetten dass‘ mit Postleitzahlen-Raten auftreten können“, erinnert sich Anna Hoffmann, die im Ladengeschäft in der Alleenstraße Eltern zur richtigen Trage verhilft oder zeigt, wie sie ein Tuch knoten können. Es ist genau dieser direkte Kontakt, der auch für Erika Hoffmann immer einen großen Stellenwert hatte. Das Tuch hat die Familie Hoffmann geprägt bis heute. Und in der Alleenstraße, in ihrem ehemaligen Arbeitszimmer, wird man das Gefühl nicht los, dass die 2015 verstorbene Erika Hoffmann immer noch auf Tuchfühlung mit ihren Kindern ist.