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Medizinische Versorgung
Doktor Nagel geht in Rente – und jetzt?

Doktor Hans-Joachim Nagel behandelt eine Patientin in seiner Praxis.Foto: Holm Wolschendorf
Doktor Hans-Joachim Nagel behandelt eine Patientin in seiner Praxis. Foto: Holm Wolschendorf
Seit mehr als 30 Jahren kümmert sich der Hausarzt Hans-Joachim Nagel fürsorglich um seine Patienten. Ende des Jahres hört er mit 69 auf. Seit Monaten sucht er einen Nachfolger. Bisher ohne Erfolg. Die Geschichte eines Mannes, der begonnen hat, an unserem Gesundheitssystem zu zweifeln.

Ludwigsburg. Ein großes Mehrfamilienhaus im Wohngebiet Schlösslesfeld. Hier arbeitet seit über 30 Jahren der Hausarzt Hans-Joachim Nagel. Wenn es die Bezeichnung „klassischer Hausarzt“ geben würde, dann wäre sie wie geschaffen für Doktor Nagel. Seine Praxis liegt nicht in einem schicken Medizinzentrum und auch nicht in verkehrsgünstiger Lage um den Bahnhof. Hans-Joachim Nagel ist Arzt geworden, weil er Menschen helfen will. Deshalb hat er sich mitten unter ihnen im Wohngebiet niedergelassen.

Doch diese Welt der klassischen Hausärzte ist aus den Fugen geraten. Viele finden keine Nachfolger mehr. Die Mediziner, die heute ins Berufsleben starten, haben andere Vorstellungen. Immer wieder müssen Hausarztpraxen schließen – auch in Ludwigsburg.

1982 hat Hans-Joachim Nagel in einem Krankenhaus angefangen. Sechs Jahre war er dort in der Inneren Medizin eingesetzt. „Für meine Kollegen und mich war damals klar: Wir lassen uns nieder. Das war damals etwas Tolles, wenn man eine Praxis aufmachen kann.“

Heute hat er den Eindruck, dass es kaum noch Interesse am Beruf Hausarzt gibt. Die Nachwuchsmediziner arbeiten lieber als Angestellte. Gerne auch in Teilzeit. Seit Monaten sucht Nagel einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin. Denn Ende des Jahres möchte er mit 69 in den Ruhestand gehen. Das Interesse an seiner Praxis ist aber gering. Einige osteuropäische Ärzte und eine Art Vermittler von medizinischem Personal aus Polen haben sich bei ihm gemeldet. Ein Nachfolger war nicht dabei. Eine angeblich interessierte Ärztin ist nicht einmal zum vereinbarten Termin erschienen. „Das tut weh, wenn man das erlebt.“

Die Praxis im Schlösslesfeld hat Nagel 1988 übernommen. Er war selbst Nachfolger eines Arztes, der in den Ruhestand gegangen ist. Später kam dessen Sohn dazu. Seither ist es eine Doppelpraxis.

Für die Misere bei den Hausärzten macht der Mediziner das Gesundheitssystem verantwortlich. Vor wenigen Wochen hat er Gesundheitsminister Spahn eine E-Mail geschrieben. Die trägt die Überschrift: Wenn Politik und Krankenkassen im Gesundheitswesen das Sagen haben, müssen am Ende die Patientinnen und Patienten mit den Folgen leben!

Falsche Entscheidungen von Politik und Krankenkassen gibt es für Doktor Nagel viele. Allen voran die Fallpauschale. „Eigentlich will man als Arzt doch den Menschen helfen, aber aus den Menschen wurden Fallpauschalen, für die es viel Geld gibt oder die sich kaum lohnen.“ Der Gesundheitssektor, vor allem die Krankenhäuser, sei in den letzten Jahren unter Kostendruck geraten. „Die müssen danach schauen, dass sie genügend Eingriffe machen können, sonst verdienen sie zu wenig und die finanzielle Kalkulation geht nicht auf.“

Die politisch gewollte Effizienzsteigerung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens habe dazu geführt, dass viele Ärzte unter der hohen Arbeitsbelastung leiden und zu wenig Zeit für den einzelnen Patienten haben. Und Hausärzte, die sich Zeit für ihre Patienten nehmen, verdienen im Vergleich zu anderen Medizinern wenig. „Von so einer Praxis wie meiner können sie durchschnittlich leben“, sagt Nagel. Viele Mediziner hätten heute aber höhere Erwartungen: Entweder einen besseren Verdienst oder weniger Stress, zum Beispiel dadurch, dass sie als Angestellte arbeiten. „Wenn ich jung wäre und eine Familie zu ernähren hätte, könnte ich mit Beibehaltung der bisherigen Arbeitsweise schwer davon leben.“ Für Nagel steht fest, dass Hausärzte mehr verdienen müssten, damit der Beruf wieder interessanter wird.

Heute gebe es Patienten, die sich finanziell lohnen, und andere, die für den Arzt nicht lukrativ sind. Ein Volltreffer sei etwa der gesunde, jüngere Patient, der sich am Hausarztmodell beteiligt, für das der Arzt Geld von der Krankenkasse erhält, der aber nie zum Arzt muss. Schwierig seien dagegen Patienten mit mehreren chronischen Erkrankungen, die regelmäßig in kurzen Abständen in die Sprechstunde kommen müssten. Für diese Menschen brauche man als Hausarzt Zeit, müsse ihre Beschwerden in Ruhe abklären. Hans-Joachim Nagel nennt ein Beispiel: Ein Patient bekommt ein neues Medikament. Eigentlich müsste dieser nun regelmäßig in die Sprechstunde kommen, damit der Arzt mit ihm abklären kann, wie gut er das Medikament verträgt und ob es Nebenwirkungen hat. „So darf man aber eigentlich nicht denken.“ Denn solch einen Aufwand könne man gar nicht entsprechend abrechnen. Am Ende arbeite man quasi umsonst. „Je öfter der Patient kommt, umso weniger rechnet er sich.“ Eine fatale Entwicklung: „Ist uns eigentlich klar, was das für die Patienten bedeutet?“ Viele Ärzte seien durch den ökonomischen Druck gezwungen, immer mehr Patienten aufzunehmen. Die Folgen sind lange Wartezeiten für die Kranken und gestresste Ärzte.

So richtig einträglich sei der Beruf nur, wenn man „sämtliche Hausarzt-Programme, die so angeboten werden, mitnimmt, die Klaviatur der Abrechnung perfekt beherrscht, bei den veranlassten Laborleistungen absolut knausert, sich der IT-Anbindung nicht widersetzt, sich einer Budgetbegrenzung in nahezu allen Bereichen unterwirft und dann noch 60 Stunden und mehr arbeitet.“

Seinem Verständnis als Arzt widerspricht es, dass eine klassische Hausarztpraxis ökonomisch denkt. Den Patienten Behandlungen nur aus finanziellen Gründen aufzuzwingen, kommt für ihn nicht infrage. Für ihn galt und gilt die Devise: „Ich mache nur das, was notwendig ist.“ Seit 40 Jahren ist er diesem Grundsatz treu geblieben. „Ich kann jeden Abend ohne schlechtes Gewissen in den Spiegel schauen.“ Er kennt aber Kollegen, die ihm geraten haben, nicht so viel Zeit in einzelne Patienten zu investieren.

Nach Meinung von Hans-Joachim Nagel wäre es auch an der Zeit, in einer Stadt wie Ludwigsburg mehr Hausarztpraxen zuzulassen. Ein Grund sei die älter werdende Bevölkerung. „Als ich angefangen habe, wurden über 65-Jährige aufgrund des Alters nicht mehr am Herzen operiert. Heute werden bei über 80-Jährigen Eingriffe am Herzen vorgenommen, die ihnen oft noch viele beschwerdefreie Lebensjahre bescheren.“

Eine andere Tatsache, die in seinen Augen für mehr Hausärzte spricht: Die Medizin wird immer komplexer – unter anderem durch die Digitalisierung. Es sei ein Trugschluss, dass dadurch alles immer einfacher werde. Das Gegenteil sei der Fall. Alles werde immer komplizierter. Das Wissen über bestimmte Krankheiten habe sich außerdem in den vergangenen Jahren vervielfacht. Und die Digitalisierung des Gesundheitswesens fresse immer mehr Zeit. Nagel sieht seine Hauptaufgabe aber weiter darin, den Menschen zuzuhören und ihre Leiden ernst zu nehmen. „Es wird erst dann einfacher, wenn alle Gesundheitsdaten eines Patienten auf einem USB-Stick im Körper implantiert werden und der Arzt am Rechner nur noch die Fehler auslesen muss“, sagt er nicht ohne Sarkasmus. Doch natürlich habe die Digitalisierung auch eine Menge Fortschritte gebracht.

Mehr Hausärzte in der Stadt brauche es auch deshalb, weil viele der bestehenden Praxen keine Patienten mehr annehmen. Von diesem Problem hört er immer wieder. Ein Patient hat ihm mal erzählt, dass er zu einer Art Vorstellungsgespräch bei einem Arzt eingeladen wurde. Dieser wollte offenbar herausbekommen, ob der Patient sich für ihn lohnen könnte. „Das dürfen wir Ärzte eigentlich gar nicht. Wir dürfen keine Auswahl treffen.“

Kritisch beobachtet Hans-Joachim Nagel die Entwicklung der Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) an den Krankenhäusern. Am MVZ des Ludwigsburger Klinikums hat erst vor kurzem eine Hausarztpraxis eröffnet, was zu einem Aufschrei unter den niedergelassenen Ärzten geführt hat. Die Praxen dort seien knallhart ökonomisch durchgerechnet, sagt Nagel. Finanziell verantwortlich sei eine Geschäftsführung, die Ärzte sind Angestellte. „Das Ganze wird dirigistisch geführt.“ Für die Ärzte dort sei es natürlich von großem Vorteil, dass die Investitionen in die Praxis über das Krankenhaus laufen. Als niedergelassener Hausarzt stehe man dagegen in einer ganz anderen Verantwortung – auch finanziell. „Wenn sie neue Geräte anschaffen, tragen die Hausärzte das Risiko.“ Die Geräte müssen dann zum Einsatz kommen, egal ob das sinnvoll ist oder nicht. „Sie müssen heute furchtbar aufpassen, wie sie in ihre Praxis investieren.“

Nagel glaubt nicht, dass die Hausarztpraxen in den Medizinischen Versorgungszentren gut bei den Menschen ankommen. „Die Patienten wollen einen Ansprechpartner“, so ist zumindest seine Erfahrung.

Wenn die Praxis von Hans-Joachim Nagel zum Jahresende ohne Nachfolger schließt, hat das weitreichende Folgen für seine Patienten. Sein Kollege kann sich nicht um die Menschen kümmern, da er selbst genügend Patienten hat. „Wo sollen sie dann hingehen?“ Doktor Nagel hat keine Antwort auf diese Frage.

Dem Minister Jens Spahn hat der Ludwigsburger Arzt in seiner E-Mail vorgeschlagen, jeden über 60-jährigen Arzt persönlich anzuschreiben und zu bitten weiterzuarbeiten, bis die strukturellen Probleme im Gesundheitssystem behoben sind. Sein Schreiben endet mit den Worten: „Seien Sie sich bitte bewusst: Wenn das Drittel der über 60 Jahre alten Hausärzte weg sein wird, und das wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren der Fall sein, können die restlichen zwei Drittel diese Last der Versorgung nicht mehr tragen!“ Eine Antwort des Ministers hat er bis heute nicht erhalten.