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Raunächte
Die sagenumwobene Zeit zwischen den Jahren

Zeit fürs Bewusstwerden: Märchenerzählerin Stefanie Keller führte am Samstag in Besigheim auf die Spuren der Göttin Holle und lud ein zum Innehalten und Kraft holen.

Besigheim. Auf den ersten Blick ist sie kaum zu entdecken. Im weinrot, schwarz und grau gehaltenen historischen Kostüm fügt sich die Märchenerzählerin in die Natur ein. Das Licht des Samstagnachmittags taucht die Umgebung am Spielplatz auf dem Besigheimer Hardtwald in die Farben des Weidenkorbs zu ihren Füßen. Daneben ein Stövchen mit Räucherwerk und Steinen. Die Bietigheimerin Stefanie Keller hat eingeladen, die Zeit der zwölf heiligen Nächte zwischen den Jahren zu nutzen, um auf einer Raunachtswanderung das alte Jahr noch einmal zu betrachten, mit Ritualen zu verabschieden und Wünsche fürs neue Jahr auszubringen. Denn in dieser Zeit stünden die Räder still und alles, was in diesen zwölf Tagen geschehe, lege die Samen fürs neue Jahr.

Gleich werden die 40 Teilnehmer der Märchenerzählerin auf einer Wanderung zu fünf Stationen folgen, um die sagenumwobene Welt der germanischen Göttin Holle zu entdecken. Beim Aufbruch nimmt sich jeder einen der Steine mit. „Sie können ihn im Wald symbolisch für etwas ablegen, das Sie aus Ihrem Leben verabschieden wollen“, sagt Stefanie Keller.

Am ersten Halt auf der Streuobstwiese erfahren die Zuhörer unter einem Apfelbaum, dass Frau Holle neben dem Holunderbusch auch der Apfelbaum zugeordnet ist. Denn das Mädchen springe in den Brunnen, um auf einer Apfelbaumwiese herauszukommen. Und schon lauschen die Zuhörer dem ersten Märchen: „Es geschah einmal, dass im Garten der Frau Holle die Äpfel nicht mehr gediehen...“ Da sei der Tod auf seinem Pferd auf die Erde gegangen, um die alte Frau zu holen, die sich mit den Apfelbäumen auskannte. Doch die wollte im Leben bleiben und habe den Tod beim Kartenspielen überlistet. Später, als die zwölf Raunächte kamen, wusste er, diesmal war die Zeit, „ob Freund oder Feind, jedem soll die Tür geöffnet werden“. Dies hatte auch für die Alte sein Gutes, denn als Frau Holle sie berührte ward‘ sie wieder jung und schön. „Die Göttin Holle steht für Tod und Wiedergeburt“, erfahren die Wandernden.

An weiteren Stationen nimmt Keller mit in die Zeit, in der das Tor zur Anderswelt offen steht und Odin mit seinem wilden Heer herumziehe, dabei auch Sturm heraufbeschwöre. Die Essenz lautet: Warnungen sind zu beherzigen. Keller regt an, während der Raunächte auf die eigenen Stimmungen zu achten und ein Traumtagebuch zu führen. Auf einer Waldlichtung erzählt sie das Märchen einer armen Frau, der es an Geld für Heizmaterial mangelte. Doch sie wertschätzte die kleinen Dinge im Leben und erfuhr höchsten Segen.

Fürs Dankesritual nimmt sich jeder Teilnehmer eine Handvoll Vogelfutter, Karotten, Nüsse aus dem Korb, um die Mischung der Natur zu schenken und dabei bewusst ein „Dankeschön“ aus dem eigenen Leben zu formulieren. Einige, so berichten sie beim weiteren Marsch im Gespräch mit unserer Zeitung, sind dankbar für ihre Familie: Deren Zusammenhalt, Geborgenheit Liebe und dass mit den Kindern in der Schule alles gut laufe. Am großen Holunderstrauch verneigen sich die Zuhörenden, denn hier wohnt die Göttin Holle. Der Strauch, so erklärt Stefanie Keller, sei die Verbindung zur Anderswelt und von der Rinde bis zum Mark, den Blättern, Blüten und Beeren habe alles Heilwirkung.

Info: Mehr Wundervolles und die weiteren Termine gibt es auf www.wortzauber.org.

Hintergrund
Die zauberhafte Kraft der zwölf heiligen Nächte

Die Raunächte sind zwölf an der Zahl. Die erste Raunacht beginnt an Heiligabend um 24 Uhr und endet am 25. Dezember um 24 Uhr. Die letzte Raunacht endet am 5. Januar um Mitternacht. Diese Nächte zwischen den Jahren symbolisieren die zwölf Sternzeichen und auch die zwölf Monate des neuen Jahres.

Entstanden seien sie aus dem Sonnenkalender mit seinen 365 Tagen und aus den zwölf Monden im Jahr mit 354 Tagen. Daraus ergebe sich eine Differenz von zwölf Tagen, die als Raunächte, Lostage oder Nächte außerhalb der Zeit bekannt sind, erklärt Märchenerzählerin Stefanie Keller. Sie seien geprägt von einer besonderen Qualität, deshalb nutzten die Menschen diese Tage gerne dazu, sie bewusster zu verbringen. Viele schalteten einen Gang zurück, um Altes – beruflich wie privat – zum Abschluss zu bringen und den Samen für das nächste Jahr zu setzen. (fran)